«Bilaterale III» und obligatorisches Referendum

Dieses Papier wurde von Astrid Epiney (die Thomas Cottier, Paul Fivat, Markus Notter und Christa Tobler für wertvolle Anregungen sehr herzlich dankt) verfasst und der Groupe de réflexion von P-S-E (Plattform Schweiz Europa) zur Diskussion am 15. Juli 2024 unterbreitet und genehmigt.

Im Zuge der laufenden Diskussionen um den Entwurf des Verhandlungsmandats des Bundesrates mit Blick auf den Abschluss eines neuen Pakets von Abkommen mit der EU, welche die bestehenden Binnenmarktabkommen stabilisieren und weiterentwickeln sollen («Bilaterale III»), wird bereits intensiv diskutiert, ob ein solches Abkommen dem obligatorischen Referendum zu unterstellen wäre. Auch wenn diese Frage definitiv erst nach der Analyse der Abkommenstexte selbst beantwortet werden kann, überrascht die mitunter zu beobachtende Insistenz, mit welcher bereits jetzt teilweise davon ausgegangen wird, dass ein obligatorisches Referendum jedenfalls und insbesondere vor dem Hintergrund der bisherigen Verfassungspraxis notwendig sei.

Denn die Bundesverfassung sieht bei Staatsverträgen ein solches obligatorisches Referendum nur beim Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften (die EU) oder Organisationen für kollektive Sicherheit (wie z.B. die UNO) vor (Art. 140 Abs. 1 lit. b BV). Hieraus ergeben sich für die Frage, ob die «Bilateralen III» dem obligatorischen Referendum unterstellt werden dürften, drei Problemkreise:

  • Ist Art. 140 Abs. 1 lit. b BV abschliessend, so dass keine anderen völkerrechtlichen Verträge dem obligatorischen Referendum unterstellt werden dürften?
  • Wird diese Frage verneint, so ist zu eruieren, ob es für ein ausserordentliches obligatorisches Staatsvertragsreferendum verfassungsrechtliche Grenzen gibt oder ob das Parlament hier ausschliesslich nach politischen Gesichtspunkten entscheiden darf.
  • Schliesslich ist – im Falle des Bestehens von rechtlichen Schranken für ein ausserordentliches obligatorisches Staatsvertragsreferendum – danach zu fragen, ob die «Bilateralen III» den gegebenenfalls bestehenden Voraussetzungen für die Unterstellung eines Staatsvertrags unter das obligatorische Referendum genügen.

In Bezug auf die erste Frage dürften – wie wohl auch mehrheitlich in der juristischen Literatur vertreten – gute Gründe dafür sprechen, dass auch andere Staatsverträge als diejenigen, die ausdrücklich in Art. 140 Abs. 1 lit. B BV genannten dem obligatorischen Referendum unterstellt werden dürfen, so dass das Parlament ein ausserordentliches obligatorisches Staatsvertragsreferendum vorsehen darf. Diesen Ansatz vertritt auch der Bundesrat in seiner Botschaft zur totalrevidierten Bundesverfassung, in seiner Botschaft zur Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk)» sowie in seiner Botschaft zum obligatorischen Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter. Der Bundesrat wies hier jeweils darauf hin, dass die geltende
Verfassungsbestimmung es erlaube, besonders wichtige völkerrechtliche Verträge dem obligatorischen Referendum zu unterstellen und geht damit grundsätzlich von der Zulässigkeit eines ausserordentlichen obligatorischen Staatsvertragsreferendums aus.

Gleichzeitig – und bezugnehmend auf die zweite Frage – weist der Bundesrat aber auch regelmässig (wenn seine Ausführungen auch mitunter missverständlich sind, vgl. sogleich) darauf hin, dass das obligatorische Referendum «Verfassungsmaterien» vorbehalten bleiben solle, also ein «Verfassungscharakter» notwendig sei und es keinen Grund gebe, auch das Ständemehr bei Vorlagen, welche die Kantone nicht spezifisch betreffen und keine Verfassungsmaterien beschlagen, zu verlangen. So verweist der Bundesrat in der zuletzt genannten Botschaft (BBl 2020 1243 ff.) darauf, dass «die Möglichkeit (besteht), einen völkerrechtlichen Vertrag auch dann Volk und Ständen zu unterbreiten, wenn er aufgrund seiner Bedeutung auf der Stufe der Bundesverfassung steht» (BBl 2020 1247). Weiter legt der Bundesrat im Einzelnen dar, warum dies beim Freihandelsabkommen (Schaffung einer neuen Lage für die Schweizer Wirtschaft, insbesondere durch den «freien Zugang zum europäischen Grossmarkt») sowie beim EWR (materiell umfassender Anwendungsbereich des Abkommens, unmittelbare Anwendbarkeit zahlreicher Vertragsbestimmungen, Unterwerfung der Schweiz unter die Zuständigkeit des EFTA-Gerichtshofs und der EFTA-Überwachungsbehörde; «zweifellos von überragender politischer und wirtschaftlicher Bedeutung für unser Land») der Fall gewesen sei, nicht hingegen bei den «Bilateralen II» bzw. «Schengen/Dublin» (keine «tiefgreifenden Änderungen unseres Staatswesens», keine Einschränkung der Souveränität, keine Beeinträchtigung der Kompetenzordnung).

Es gibt im Übrigen weder eine Praxis noch Verfassungsgewohnheitsrecht, dass ein ausserordentliches obligatorisches Referendum auf weitere besonders wichtige Abkommen ausgedehnt werden dürfte oder könnte. Vielmehr war die Unterstellung des EWR-Vertrags unter das obligatorische Staatsvertragsreferendum seit dem Inkrafttreten der diesbezüglichen Verfassungsbestimmungen (das FHA wurde vor der Revision des Staatsvertragsreferendums dem obligatorischen Referendum unterstellt und die Abstimmung über den Völkerbund datiert von 1920) der einzige Fall eines solchen ausserordentlichen obligatorischen Staatsvertragsreferendums, welches aber letztlich auf den sehr weitgehenden supranationalen Elementen des EWR, die in ihren Wirkungen teilweise einem EU-Beitritt gleichkamen, sowie der mit der Vorlage ebenfalls vorgesehenen Übergangsbestimmung, welche für das Euro-Lex-Paket das fakultative Referendum ausschliessen sollte (was das Parlament dann abänderte, indem ein nachträgliches fakultatives Referendum vorgesehen wurde, was aber ebenfalls eine Verfassungsänderung bedingt hätte), beruhten. So führte der Bundesrat in seiner Botschaft zum EWR-Abkommen vier Gründe an, weshalb der Vertrag dem obligatorischen Referendum unterliege (BBl 1992 IV 541):

  • Verpflichtung zur Schaffung von zwei Organisationen („EFTA-Gerichtshof“ und „EFTA-Überwachungsbehörde“) mit supranationalen Elementen;
  • umfassender Anwendungsbereich;
  • zahlreiche unmittelbar anwendbare Bestimmungen mit Vorrang;
  • „Anpassung des Verfassungsrechts“ zwingend notwendig.

Der Hinweis des Bundesrates in seiner Botschaft zum obligatorischen Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter, der EWR sei «zweifellos von überragender politischer und wirtschaftlicher Bedeutung für unser Land», und daher sei nur das obligatorische Referendum in Frage gekommen, eine Auffassung, welcher sich die Bundesversammlung angeschlossen habe (BBl 2020 1249), erscheint vor diesem Hintergrund missverständlich. Denn die «Bedeutung» oder «Wichtigkeit» war offenbar 1992 gerade nicht der entscheidende Gesichtspunkt (auch wenn der Bundesrat in seiner EWR-Botschaft ergänzend auf die grosse Bedeutung des Abkommens hinwies), sondern es ging in erster Linie um die supranationalen Elemente des EWR-Vertrages sowie die vorgesehene Verfassungsänderung (die übrigens schon für sich allein das obligatorische Referendum erforderte).

In der Tat spricht aus verfassungsrechtlicher Sicht Vieles dafür, dass ein völkerrechtlicher Vertrag nicht beliebig einem ausserordentlichen obligatorischen Staatsvertragsreferendum unterstellt werden darf, sondern dies auf solche Konstellationen beschränkt werden sollte, in welchen der entsprechende Staatsvertrag Wirkungen entfaltet, die denjenigen eines Beitritts zu einer supranationalen Organisation gleichkommen bzw. ins Gewicht fallende supranationale Elemente aufweist. Hinzuweisen ist insbesondere auf die enumerative Aufzählung in der Verfassung, welche klar dagegen spricht, dass auch darüber hinaus alle besonders bedeutsamen Staatsverträge – ohne dass klar wäre, nach welchen Kriterien die Bedeutung beurteilt würde – dem obligatorischen Referendum unterstellt werden dürften und die Bundesversammlung hier frei aufgrund politischer Erwägungen bzw. der Einschätzung eines Abkommens als «besonders wichtig» entscheiden dürfte. Denn im Gegensatz zu Verfassungen anderer Staaten umschreibt die – von Volk und Ständen angenommene – Bundesverfassung den Anwendungsbereich der Volksrechte bzw. diejenigen Konstellationen, in welchen ein obligatorisches oder fakultatives Referendum durchzuführen ist, im Ergebnis recht genau, so dass deren Reichweite nicht frei durch Entscheide der politischen Behörden bestimmt werden darf bzw. von solchen Entscheiden abhängt. Plebiszitäre Referenden in den Händen von Regierung und Parlament widersprechen der in der Bundesverfassung getroffenen Regelung und dem dieser zugrunde liegenden Verfassungsverständnis.

Der hier vertretene Ansatz entspricht auch der langjährigen, wenn auch (sofern man das Freihandelsabkommen berücksichtigt) nicht immer ganz einheitlichen Praxis. So wurden weder die Bilateralen I noch die Bilateralen II (in welchen nota bene aufgrund der Schengen-/Dublin-Assoziierung eine dynamische Übernahme von Weiterentwicklungen des Unionsrechts vorgesehen ist) dem obligatorischen Referendum unterstellt. Ebensowenig kam beim Luftverkehrsabkommen, in welchem sich die Schweiz immerhin in bestimmten Fällen der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof unterstellt hat, das obligatorische Referendum zum Zug. Bezeichnend ist auch, dass 2012 eine Volksinitiative («Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk»), wonach alle Abkommen, die in «wichtigen Bereichen» eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung vorsehen und/oder Rechtsprechungszuständigkeiten an ausländische oder internationale Institutionen übertragen, Volk und Ständen vorgelegt werden sollten, mit einem Nein-Anteil von rund 75 % ohne Gegenvorschlag verworfen wurde. Das Parlament seinerseits trat 2021 auf den bundesrätlichen Vorschlag, für Verträge mit Verfassungscharakter oder für Verträge, deren Umsetzung eine Verfassungsänderung erfordert, ein obligatorisches Staatsvertragsreferendum vorzusehen, nicht ein.

Vor diesem Hintergrund spricht also im Ergebnis Vieles dafür, an den Text der Verfassung anzuknüpfen, so dass ein ausserordentliches Staatsvertragsreferendum nur dann vorgesehen werden darf, wenn der betreffende Vertrag supranationale Elemente oder einen supranationalen Charakter aufweist, womit ihm dann gerade «Verfassungscharakter» zukommt. Damit ist zwar durchaus von einem gewissen Gestaltungsspielraum des Parlaments auszugehen, kann doch die Frage der genauen «supranationalen Wirkungen» eines Staatsvertrags durchaus umstritten sein. Nicht mit der Verfassung in Einklang stehend dürfte es jedoch sein, Bundesrat und / oder Parlament zu erlauben, je nach politischer Einschätzung Staatsverträge, welche weder einen Beitritt zu einer supranationalen Organisation (oder einer Organisation kollektiver Sicherheit) noch supranationale Elemente enthalten, dem obligatorischen Referendum zu unterstellen.

Zurück zu den «Bilateralen III» (und damit zur oben erwähnten dritten Frage): Nichts in dem Entwurf des Verhandlungsmandats des Bundesrates lässt erkennen, warum ein allfälliges Abkommen einem Beitritt zu einer supranationalen Organisation gleichkommen soll bzw. supranationale Elemente aufweisen soll: Die Auswirkungen wären – ohne die Bedeutung des zukünftigen Vertragswerks minimisieren zu wollen – in keiner Weise mit einem solchen Beitritt auch nur ansatzweise vergleichbar und weisen auch keine supranationalen Elemente auf: Es geht um einige (wenige) Binnenmarktabkommen, die dynamische Rechtsübernahme ist zwar vorgesehen, allerdings mit der ausdrücklichen Möglichkeit (insoweit übrigens im Gegensatz zur Schengen-/Dublin-Assoziierung) des «Ausscherens», und die Streitbeilegung zwischen den Vertragsparteien obliegt trotz der Rolle des EuGH als «Gericht des Binnenmarktes» einem Schiedsgericht (ein im Völkerrecht gängiges Verfahren), während ansonsten Schweizer Behörden und Gerichte in der Schweiz für die Überwachung und den Rechtsschutz zuständig sind. Insofern ist bei näherer Betrachtung kein typisches Merkmal einer supranationalen Organisation (umfassender materieller Anwendungsbereich, unabhängige ständige Organe, darunter solche, die verbindliche Mehrheitsbeschlüsse fassen können, die unmittelbar für Einzelne verbindlich sind) erfüllt. Auch kann keine Rede davon sein, dass dem Abkommenspaket als solchem klar Verfassungsrang zukäme, den Föderalismus bzw. die Rolle der Kantone besonders betreffen würde oder gar eine grundlegende Veränderung der Organstrukturen nach sich zöge, bleiben doch die Kompetenzen des Parlaments und der anderen Verfassungsorgane sowie der Kantone gewahrt.

Dass den «Bilateralen III» zweifellos eine grosse Bedeutung zukommt und sie auch politisch sensible Bereiche wie insbesondere die Personenfreizügigkeit betreffen, ändert an den dargelegten Ausführungen nichts. Klarzustellen bleibt dabei, dass das Vertragspaket der «Bilateralen III» nach Art. 141 BV unstreitig dem fakultativen Referendum zu unterstellen wäre und wohl kaum Zweifel daran bestehen, dass das Referendum ergriffen würde. Das Volk müsste also in jedem Fall dem Vertragswerk zustimmen. Ohne eine Mehrheit des Volkes könnte das Paket somit nicht abgeschlossen werden.

Neben den erwähnten rechtlichen Argumenten und selbst wenn man die Ansicht vertritt, auch besonders wichtige Verträge dürften je nach politischer Einschätzung der «Wichtigkeit» einem ausserordentlichen Staatsvertragsreferendum unterstellt werden, ist darauf hinzuweisen, dass das obligatorische Referendum die Notwendigkeit des Ständemehrs mit sich bringt, was eine sehr starke Stellung der Kantone bzw. ihrer Bevölkerung impliziert und den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern der «kleinen» Kantone ein deutlich überproportionales Gewicht zukommt. Dies beeinträchtigt das demokratische Prinzip, welches in Verfassungsmaterien bzw. in solchen Konstellationen, in denen die Rolle und Kompetenzen der Kantone betroffen sind bzw. bei Verfassungsmodifikationen mit guten Gründen gerechtfertigt werden kann und von der Verfassung vorgesehen ist. Mit Blick auf das demokratische Prinzip und die Gleichheit des Gewichts der Stimmen sollten jedoch ausserordentliche obligatorische Staatsvertragsreferenden – wie dies auch der Praxis der vergangenen Jahre entspricht – auf absolute Ausnahmekonstellationen – welche nur bei Vorliegen der skizzierten Voraussetzungen anzunehmen sind – beschränkt bleiben. Was die «Bilateralen III» betrifft, so sind diese Voraussetzungen – wie dargelegt – nicht gegeben; sie stellen letztlich eine Fortführung und Stabilisierung des bisherigen bilateralen Weges dar, woran auch gewisse institutionelle Elemente nichts ändern.

3. Mai 2024

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