Das Ständemehr der Bundesverfassung aus individualrechtlicher Sicht
I. Einleitung
1. Die Frage der Erforderlichkeit eines Ständemehrs für die anstehenden Verträge mit der Europäischen Union (Bilaterale III) ist umstritten. Das Bundesamt für Justiz hat in seinem Gutachten vom 27. Mai 2024 stringent und überzeugend dargelegt, dass in diesem Fall rechtlich die Voraussetzungen für die Unterstellung unter das Ständemehr nicht erfüllt sind. Der Bundesrat hat indessen das Gutachten lediglich zur Kenntnis genommen. Er behält sich die Unterstellung unter das obligatorische Referendum von Volk und Ständen anstelle der verfassungsrechtlich erforderlichen Unterstellung unter das einfache Referendum des Volkes als ein plebiszitäres Staatsvertragsreferendum sui generis weiterhin vor. Das Kriterium der Wichtigkeit wird immer wieder ins Feld geführt, obgleich es sich durch seine Unbestimmtheit für die Zuteilung von Entscheidungskompetenzen verfassungsrechtlich nicht eignet und 2021 zur Ablehnung einer Kodifizierung des angeblich gewohnheitsrechtlichen obligatorischen Referendums sui generis durch das Parlament geführt hat. Offen ist, wie die Mehrheit des Nationalrates und des Ständerates entscheiden wird.
2. Da keine Verfassungsgerichtsbarkeit in der Frage zur Verfügung steht, wird die Frage nach politischer Opportunität entschieden. PolitikerInnen werden daher auch die Auswirkungen auf ihre Wählerschaft und ihren Kanton berücksichtigen wollen. Das gleiche gilt auch für die Kantonsregierungen und die KdK, die politischen Parteien und Verbände in Bezug auf den Wirtschaftsstandort und die Betroffenheit der einzelnen Landesteile und Regionen.
3. Nicht beachtet wird auch seitens des BJ in den bisherigen Überlegungen die Rechts-lage aus der Sicht von Stimmbürgerinnen und Stimmbürger – und damit aus individualrechtlicher Sicht. Das Ständemehr führt dazu, dass die Stimmkraft der abgegebenen Stimmen in hohem Masse unterschiedlich behandelt wird. Im Folgenden wird geprüft, ob die dafür erforderlichen Voraussetzungen für die Vorlage der Bilateralen III erfüllt werden kann oder nicht. Da die Unterstellung unter das doppelte Referendum dieser Vorlage verfassungsrechtlich unklar ist, muss der Entscheid auch Auswirkungen auf die Stimmkraft der Bürgerinnen und Bürger und damit auch der einzelnen Kantone berücksichtigen. Das ist kein Angriff auf den Föderalismus, wie er in vielen Bereichen unbestritten verfassungsrechtlich zum Tragen kommt, sondern die Mitberücksichtigung der individualrechtlichen Seite des Problems.
II. Das Stimm- und Wahlrecht als Individualrecht
4. Art. 34 BV gewährleistet die politischen Rechte. Die Garantie gewährleistet in Abs. 2 ausdrücklich die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe. Art. 39 BV regelt die Zuständigkeit des Bundes zur Regelung der Ausübung der politischen Rechte.
5. Art. 8 BV gewährleistet die Rechtsgleichheit. Zur unverfälschten Stimmabgabe gehört grundlegend, dass alle Stimmen von gleichem Gewicht sind. Niemand kann hier grundsätzlich Vorrechte des Ortes oder des Geschlechts geniessen.
6. Art. 140 BV sieht das obligatorisch Referendum primär für Änderungen der Bundesverfassung vor. Das Erfordernis der Mehrheit der Standesstimmen geht historisch auf das Anliegen des Minderheitenschutzes bei der Übertragung von Kompetenzen der Kantone auf den Bund zurück. Die meisten Verfassungsänderungen bezogen sich auf solche Tatbestände und die Schaffung von neuen Bundesaufgaben, die den betreffenden Regelungsbereich den Kantonen grundsätzlich entzog. Hier, wie in der weiteren, späteren Ausdehnung des Ständemehrs auf supranationale Verträge und dringliche Vorlagen geht der Minderheitenschutz verfassungsrechtlich der Rechtsgleichheit vor.
7. Heute kommt die Ungleichbehandlung häufig vor, namentlich auch bei Abstimmungen über Volksinitiativen, ungeachtet dessen, ob sie mit neuen Aufgaben für den Bund verbunden sind oder lediglich bestehende Regelungen anpassen (wie z.B. bei der Konzernverantwortungsinitiative oder der Volksinitiative für eine 13. AHV Rente. Die bundesstaatliche Kompetenzordnung war hier nicht betroffen.
8. In all diesen Fällen führt das Ständemehr zu einer ungleichen Gewichtung der einzelnen Stimme nach Massgabe der Stimmberechtigten der einzelnen Kantone. Nach Massgabe der Stimmberechtigten der letzten Volksabstimmung vom 28.5.24 ergeben sich folgende Zahlen:
Volksabstimmung vom 28.5.2024 «Für ein besseres Leben im Alter» (Initiative für eine 13. AHV Rente)
Kanton | Stimmberechtigte | Stimmkraft pro Person
(Glarus = 1) bei erforderli-chem Ständemehr ( pro Kan-ton 1, Halbkantone 1/2) |
Zürich | 968’595 | 0.028 |
Bern | 747’589 | 0.036 |
Luzern | 285’958 | 0.094 |
Uri | 27’053 | 0.993 |
Schwyz | 108.075 | 0.248 |
Obwalden ((1/2) | 27’633 | 0.486 |
Nidwalden (1/2) | 32’022 | 0.419 |
Glarus | 26’877 | 1 |
Zug | 78’825 | 0.340 |
Freiburg | 215’906 | 0.125 |
Solothurn | 183’296 | 0.146 |
Basel-Stadt (1/2) | 113’922 | 0.018 |
Basel-Land (1/2) | 191’091 | 0.070 |
Schaffhausen | 53’995 | 0.497 |
Appenzell A.-Rh (1/2) | 39’225 | 0.342 |
Appenzell I.-Rh (1/2) | 12’249 | 1.097 |
St. Gallen | 331’512 | 0.081 |
Graubünden | 142’195 | 0.189 |
Aargau | 443’581 | 0.060 |
Thurgau | 179’814 | 0.149 |
Tessin | 225’377 | 0.119 |
Waadt | 475’731 | 0.056 |
Wallis | 233’798 | 0.115 |
Neuenburg | 114’148 | 0.235 |
Genf | 278’541 | 0.096 |
Jura | 54’438 | 0.493 |
Schweiz | 5’591’446 |
9. Die Ungleichbehandlung ist massiv. Nimmt man den kleinsten Vollkanton (Glarus) zu Stimmkraft N 1, so beträgt die einzelne Stimme in Zürich, dem grössten Kanton, lediglich N 0.028 unter Annahme einer vollen Stimmbeteiligung. Die stärkste Stimmkraft kommt Appenzell I.-Rh mit N 1.079 pro Stimme zu. Die Differenz zum Kanton Zürich beträgt nach diesen Zahlen 39.5 (unter Berücksichtigung als Halbkanton). Eine Zürcher Stimme hat entsprechend 39.5 mal weniger Gewicht als eine Stimme aus Appenzell I.-Rh.
10. Es ist offensichtlich, dass dies eine Einschränkung des Stimmrechts aller BürgerInnen der Kantone mit Ausnahme von Glarus gleichkommt, und zudem einer besonderen Privilegierung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger von Appenzell I.-Rh. Die Einschrän-kung variiert nach Grösse der Kantone, stellt klarerweise die StimmbürgerInnen aus grossen Kantonen massiv schlechter als die StimmbürgerInnen kleiner Kantone. Die Stimmkraft einer grossen Mehrheit wird gegenüber dem einfachen Referendum und Volksmehr verzerrt und verfälscht. Das verstösst gegen Art. 34 Abs. 2 BV. Das verstösst gegen Art. 34 Abs. 2 BV.
11. Die Ungleichbehandlung der Stimmkraft ist nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch rechtlich relevant. Denn sie verstösst gegen Art. 34 Abs. 2 BV und bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung.
12. Art. 36 BV regelt die Voraussetzungen für die Einschränkung von Grundrechten, zu den auch die politischen Rechte als verfassungsmässiges Recht gehören. Erforderlich ist eine gesetzliche Grundlage, genauer gesagt einer rechtlichen Grundlage, die hier verfas-sungsrechtlich nach Massgabe der Bestimmungen von Art. 140 BV erfüllt ist. Es bedarf sodann des öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit.
13. Die Schwere der Einschränkung ist bei der Auslegung von Art. 140 BV und der Frage des Behördenreferendums sui generis für Staatsverträge über den Wortlaut von Art. 140 BV hinaus zu berücksichtigen. Aus individualrechtlicher Sicht ist klar, dass hierfür eine gewohnheitsrechtliche Grundlage nachgewiesen werden können muss. Das Bundesamt für Justiz hat dies in seinem Gutachten vom 24.5.2024 klar und überzeugend verneint. Die gelegentliche und inkonsistente Unterstellung von Staatsverträgen aus angeblichen Gründen der Wichtigkeit in der Praxis von Bundesrat und Parlament nach Massgabe politischer Opportunität genügt verfassungsrechtlich nicht.
14. Die mit dem Ständemehr verbundene Ungleichbehandlung als schwerwiegende Ein-schränkung der Stimmkraft verlangt auch, dass dies bei der Auslegung von Art. 140 BV berücksichtigt werden muss, und damit politisch auch bei der Frage eines Referendums sui generis. Das gilt für den Nachweis des öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit der mit dem Ständemehr verbundenen Ungleichbehandlung von Bürgerinnen und Bürger der Schweiz.
15. Dies führt zwangsläufig zu einer engen Auslegung. Das gilt namentlich für die Frage, ob die Bilateralen III zu wichtigen Kompetenzverschiebungen von den Kantonen auf den Bund oder supranationale Elemente aufweisen durch die Unterstellung von Streitigkeiten unter den Europäischen Gerichtshof im Rahmen des Schiedsverfahrens und damit von besonderer Wichtigkeit sind.
16. Soweit ersichtlich fallen alle Regelungsbereiche der Bilateralen III materiell bereits heute in die Kompetenz des Bundes. Eine Ausnahme bildet allein das Ueberwachungsverfahren für kantonale Subventionen, das wohl ähnlich wie im Beschaffungswesen neue Funktionen des Bundes mit sich bringen wird, aber keine rechtssetzenden Befugnisse beinhalten dürfte.
17. Die Unterstellung der Bilateralen III unter die verbindliche Schiedsgerichtbarkeit, einschliesslich der Zuständigkeiten des Europäischen Gerichthofes, führt nicht zu einer dem EU Beitritt vergleichbaren Rechtslage. Denn anders als bei einem Beitritt steht der Schweiz die Möglichkeit des Opting-out nach wie vor zur Verfügung. Anzufügen ist, dass Bundesrat und Parlament die WTO Verträge von 1995 gemäss Botschaft vom 19.9.1994 Ziff. 8.3. nicht dem obligatorischen Referendum unterstellt haben, obgleich diese eine verbindliche Streitbeilegung durch Panels und den Appellate Body umfassen. Die Entscheidungen des Dispute Settlement Body sind für die Schweiz verbindlich. Ein Opt-out besteht dahin, dass auch hier die Schweiz mit Zustimmung der WTO (Dispute Settlement Body) Ausgleichsmassnahmen in Kauf nehmen kann, wenn sie einer festgestellten Rechtsverletzung keine Folge leisten will. Die Rechtslage in den Bilateralen III ist damit vergleichbar.
18. Die individualrechtliche Betrachtung stützt im Ergebnis die Unterstellung der Bilateralen III unter das einfache, fakultative Staatsvertragsreferendum und zur Ablehnung eines erforderlichen Ständemehrs mit Rücksicht auf die StimmbürgerInnen und die Integrität und Gleichbehandlung ihrer Stimmkraft. Wer für ein Ständemehr eintritt, nimmt eine mas-sive Ungleichbehandlung der Stimmenden in grossen und mittleren Kantonen trotz fehlender Rechtsgrundlage in Kauf.
19. Der Schutz der kleinen Kantone ist verfassungsrechtlich in die Hände des Ständerates gelegt. Er kann mit seinen Kommissionen und im Plenum dafür sorgen, dass deren Interessen hinreichend wahrgenommen werden, zuletzt in der Beurteilung des endgültigen Verhandlungsergebnisses. Dem Minderheitenschutz ist damit Genüge getan und bedarf keines obligatorischen Referendums mit Erfordernis auch des Ständemehrs.
Prof. Thomas Cottier
7.7.24 final
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