Warum wurde das FHA mit der EWG 1972 dem obligatorischen Referendum unterstellt?

Präzedenzfälle werden – und die Diskussion darüber hat bereits begonnen – eine Rolle spielen beim Entscheid, ob die Bilateralen III dem fakultativen oder obligatorischen Referendum unterstellt werden. Der Entscheid ist nicht unwesentlich. Ob eine Mehrheit der Abstimmenden oder auch noch eine Mehrheit der Kantone dem Abkommen zustimmen müssen, kann in einer umstrittenen Materie entscheidend sein. Das Verhältnis zur EU gehört in diese Kategorie.

 

Als Präzedenzfälle werden vor allem die Abstimmungen zum EWR-Abkommen von 1992 und zum Freihandelsabkommen (FHA) mit der EWG von 1972 angeführt, die beide dem obligatorischen Referendum unterstellt wurden. Dieser Beitrag befasst sich mit dem Entscheid von 1972, der nicht nur weiter zurückliegt als die EWR-Abstimmung, sondern 50+ Jahre später auch schwieriger nachzuvollziehen ist. Aus heutiger Sicht kann man sich in der Tat fragen, was den Bundesrat und das Parlament damals bewogen hat, für ein reines Handelsabkommen, das keine zwingenden institutionellen Vorschriften enthält und im Vergleich zu heutigen FHA einen beschränkten Themenkreis umfasst, das obligatorische Referendum vorzusehen. Aber auch mit Sicht auf die damalige Zeit ist dieser Beschluss nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Das EFTA-Abkommen, welches als FHA ähnliche Verpflichtungen und Themenkreise umfasste wie das Abkommen mit der EWG, aber weitergehende institutionelle Konsequenzen hatte, trat für die Schweiz 1960 auf der Basis eines Parlamentsentscheids in Kraft. Weder ein fakultatives noch ein obligatorisches Referendum wurden als notwendig erachtet.

 

Auf der Basis von zeitgenössischen Unterlagen[1] wird hier versucht, einen Blick auf die 1972 massgeblichen Beweggründe zu werfen.

 

Zur Erinnerung: Der damals geltende Art. 89, Abs. 4, der Bundesverfassung sah ein fakultatives Staatsvertragsreferendum vor, das für «Staatsverträge mit dem Ausland, welche unbefristet oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossen sind», galt, wenn es von 30’000 Bürgern oder acht Kantonen verlangt wurde. Die Bestimmung ging auf eine Initiative aus dem Jahr 1913 zurück, die 1921 angenommen worden war. Interessant ist, dass sie im Ständerat nach einem Patt von 13:13 Stimmen nur dank eines Stichentscheids des Vorsitzenden eine Mehrheit gefunden hatte. Ein obligatorisches Referendum für Staatsverträge war jedoch 1972 in der Bundesverfassung nicht vorgesehen. Da das FHA mit der EWG eine Kündigungsklausel enthielt, fiel es auch nicht unter die zeitlichen Vorgaben von Art. 89 und damit nicht einmal unter die Verpflichtung für ein fakultatives Referendum.

 

Auch 1972 war der Entscheid, das FHA mit der EWG dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, sehr umstritten. Staatsrechtler wie die Professoren Dietrich Schindler und Hans Hofer, aber auch geachtete ehemalige Parlamentarier wie der frühere Ständerat Eduard Zellweger wandten sich vehement gegen den Entscheid. Dies nicht nur aus den oben erwähnten juristischen Gründen, sondern ebenso, weil sie befürchteten, dass mit dieser «politischen» Entscheidung eine Entwicklung eingeleitet werde, in der plebiszitäres Denken Vorrang gegenüber der Verfassung geniessen würde. Auch erinnerten sie den Bundesrat und die Parlamentarier an ihre Verantwortung: sie waren die nach der Verfassung zuständigen Instanzen für den Entscheid in solchen Fragen. Ohne Not diesen dem Stimmvolk zu übertragen hiesse demnach, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wie schon 1921 fielen diese Argumente auch 50 Jahre später im Ständerat auf offene Ohren. Er sprach sich in einer ersten Abstimmung gegen den Vorschlag des Bundesrats für ein obligatorisches Referendum aus. Erst nach einem Differenzbereinigungsverfahren schloss er sich dem Nationalrat an, der bereits zuvor bereit war, dem Bundesrat zu folgen.

 

Entscheidend waren somit die Haltung und die Argumente des Bundesrats. Um diese nachzuvollziehen – und auch deren Akzeptanz durch das Parlament zu verstehen –, ist ein Blick auf den damaligen Kontext notwendig. Obschon sich die Schweiz mit dem Beitritt zur EFTA 1960 für eine Freihandelszone entschieden hatte, bildeten das Verhältnis zur sich verfestigenden EWG und die Überwindung der Spaltung Westeuropas in zwei Gruppen während der 1960er Jahre wichtige Fragen der schweizerischen Aussenpolitik. Das Assoziationsgesuch von 1961, aber auch die Eröffnungserklärung des Bundesrates von 1970 zur Explorationsphase, welche in die Verhandlungen zum FHA mündete, beweisen, dass der Bundesrat sich für eine umfassendere Zusammenarbeit mit der EWG interessierte, als sie im FHA erreicht wurde. Es war von einer Mitwirkung «am weiteren Ausbau eines integrierten europäischen Marktes» (1961) und von der «Gestaltung besonderer Beziehungen« (1970) zur EWG die Rede. Auch die für die angestrebte Zusammenarbeit genannten Themen und Sachbereiche erinnern mehr an diejenigen des EWR-Abkommens als an das FHA. Aus heutiger Sicht erstaunen diese weitgehenden Absichten und Deklarationen, aber wie Bundesrat Schaffner 1963 festhielt: «Die Schweiz ist an einer gesamteuropäischen Integrationslösung interessiert».

 

Angesichts dieser Vorstellungen ist es nicht erstaunlich, dass immer wieder betont wurde, ein Abkommen müsse den Stimmbürgern vorgelegt werden, bevor es in Kraft treten könne. Dass daraus schliesslich ein pragmatischer, weitgehend auf Industrieprodukten basierender völkerrechtlicher Vertrag wurde, änderte diesbezüglich nichts an der Haltung des Bundesrates. Er beurteilte dieses Abkommen trotz seines reduzierten Inhalts als vorläufigen Abschluss einer Phase von Versuchen, die europäische Zusammenarbeit auf eine harmonisierte Basis zu stellen. Dies rechtfertigte die Beschlussfassung durch Stimmbürger und Stände, auch wenn, wie Bundesrat Brugger mit bemerkenswerter Offenheit vor den Räten meinte, der diesbezügliche Beschluss sei vielleicht etwas voreilig gefällt worden. Dieser Ansicht schloss sich auch der Nationalrat und, in einer 2. Lesung, der Ständerat an. Im Parlament wurde zudem die Befürchtung geäussert, eine Abkehr vom Versprechen des Bundesrats könne das Misstrauen der Stimmbürger wecken und die Abstimmung negativ beeinflussen. Die Stimmbürger und Kantone taten wie erhofft und hiessen das Abkommen am 3.Dezember 1972 mit einer Mehrheit von 72.5% und allen Standesstimmen gut.

 

Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Schilderung für die Abstimmung über die Bilateralen III ziehen? Wie ihre Kollegen 1972 sind sich die Staatsrechtler der «Groupe de réflexion» der P-S-E auf der Basis der vorliegenden Informationen einig, dass aufgrund der Verfassung keine Notwendigkeit besteht bzw. es dieser widerspricht, diese Abkommen Volk und Ständen zu unterbreiten. Im Vergleich zur oben geschilderten Situation, welche 1972 für den Entscheid von Bundesrat und Parlament entgegen den Bedenken der Staatsrechtler massgebend war, haben sich die Verhältnisse grundlegend geändert. Heute geht es nicht mehr um den Abschluss eines längeren integrationspolitischen Verfahrens, sondern um die Sicherung und Fortführung eines bereits eingeschlagenen, von den Stimmbürgern mehrere Male gutgeheissenen und exklusiv auf die Schweiz und die EU beschränkten bilateralen Wegs. Die Präzedenzwirkung der Abstimmung von 1972 kann somit mit guten Gründen in Zweifel gezogen werden. Auch der Bundesrat scheint vorsichtiger geworden zu sein und will sich, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, nicht im Voraus auf einen Entscheid festlegen, sondern erst, wenn das Verhandlungsergebnis vorliegt.

 

Hanspeter Tschäni

Dr. iur, ehem. Botschafter SECO

Juli 2024

[1] Artikel der NZZ und des Tages-Anzeiger aus dem Archiv meines Vaters, Hans Tschäni. Er hat sich damals als verantwortlicher Inlandredaktor beim zürcherischen Tages-Anzeiger intensiv mit dem Verhältnis der Schweiz zur EWG befasst. Für die hier geäusserte Darstellung trage ich jedoch die Verantwortung.

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