NEUTRALITÄT – Ein Recht oder eine Pflicht?

Die Sicht eines politisch interessierten Bürgers.

Im Zusammenhang mit der Neutralitätsdebatte wird oft auf das HAAGER Abkommen betreffend «Rechte und Pflichten neutraler Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges» verwiesen. Es ist eines von 13 Abkommen der HAAGER Friedenskonferenz von 1907. Dieses zwischenzeitlich 117 Jahre alte HAAGER Abkommen wurde noch zu Kaiser-, Königs- und Zaren- Zeiten erstellt, als es noch keine Panzer, Raketen, Flugzeuge etc. gab, geschweige denn Satelliten und Atombomben.

 

Was beinhaltet das HAAGER Abkommen?

 

Das HAAGER Abkommen unterscheidet zwischen Rechten und Pflichten neutraler Staaten im Falle eines Landkrieges. Der Konflikt vor dem Krieg ist somit nicht berücksichtigt. Die im HAAGER Abkommen aufgeführten Rechte, im Wesentlichen die «Unverletzlichkeit des Gebietes neutraler Staaten», wurden im Jahr 1945 von der UN- Charta substituiert, die von 193 Staaten unterzeichnet wurde, von der Schweiz aber erst im Jahr 2002. Die aufgeführten Pflichten neutraler Staaten sind hingegen in der UN- Charta nicht geregelt. Unter Plichten fordert das HAAGER Abkommen im Wesentlichen die «Gleichbehandlung von Kriegsführenden bei der Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial durch ein neutrales Land». Die Entsendung von Truppen in fremde Kriege wird nicht thematisiert.
Die Unverletzlichkeit des Gebietes neutraler Staaten und Gleichbehandlung von kriegsführenden Mächten sind also im HAAGER Abkommen verknüpft miteinander. Wenn eine kriegführende Macht gegen das Recht der Unverletzlichkeit des Gebietes eines neutralen Staates verstösst, so versteht es sich, dass der neutrale Staat nicht mehr an die Pflicht der Gleichbehandlung der kriegführenden Macht gebunden ist, d.h. die Neutralität wird hinfällig. Andererseits, wenn der neutrale Staat gegen die Pflicht der Gleichbehandlung einer kriegführenden Macht verstösst, so könnte dies eine kriegführende Macht zum Anlass nehmen, gegen das Recht der Unverletzlichkeit des Gebietes des neutralen Staates zu verstossen. Aber dieses Risiko haben alle Staaten, unabhängig davon, ob neutral oder nicht neutral.
Mit der Substitution der Rechte des HAAGER Abkommens durch die UN- Charta beschränkt sich die Bedeutung des HAAGER Abkommens auf die Pflichten neutraler Staaten. Trotzdem wird das HAAGER Abkommen von Bundesbehörden und Bundespolitikern salopp als Neutralitätsrecht bezeichnet. Ein international anerkanntes Neutralitätsrecht gibt es aber nicht.

 

Wurden die Rechte neutraler Staaten gemäss HAAGER Abkommen im 2.Weltkrieg respektiert?

 

Insbesondere im 2.Weltkrieg wurde die Wirksamkeit des HAAGER Abkommens auf die Probe gestellt. Da hat sich gezeigt, dass Aggressoren keine Rücksicht auf die territoriale Unversehrtheit eines Staates nehmen, unabhängig davon, ob neutral oder nicht neutral. Das mussten neutrale Staaten wie Belgien, Holland, Dänemark, Norwegen und Finnland im 2.Weltkrieg schmerzlich erfahren, weil sie das Pech hatten, auf den Kriegsachsen von Berlin nach Frankreich, Grossbritannien und Russland zu liegen. Das Deutsche Reich hat somit im 2.Weltkrieg mit der Besetzung von neutralen Staaten gegen die Rechte des HAAGER Abkommens verstossen. Heute wäre dies ein Verstoss gegen die UN- Charta. Die neutrale Schweiz wie auch Schweden wurden von Kriegshandlungen weitgehend verschont, obschon mitten im Kriegsgeschehen. Auf die Frage, wieso die Schweiz vom 2.Weltkrieg verschont wurde haben viele Schweizer/innen eine schnelle Antwort: Weil die Schweiz neutral und wehrhaft war. Aber stimmt das?

 

Haben neutrale Staaten im 2.Weltkrieg gegen die Pflichten des HAAGER Abkommens verstossen?

 

Schweden diente insbesondere als Lieferant von Erzen für die Stahlindustrie des Deutschen Reiches und die Schweiz als Waffenlieferant und Aufbewahrungsort von geraubtem Gold aus Nationalbanken der eroberten Staaten durch das Hitler- Regime. Aber mit Gold konnten keine Rechnungen für die Lieferung von Erzen oder Waffen etc. beglichen werden und die hochinflationäre Deutsche Reichsmark wollte niemand als Zahlungsmittel. Also musste das Gold des Hitler Regimes in Schweizer Franken umgewandelt werden, damals der einzigen konvertierbaren Währung von Europa. Die Schweiz diente quasi als Geschäftsbank des Deutschen Reiches.

Und beide Länder ermöglichten die Durchfuhr von Kriegsmaterial des deutschen Reiches. Die Schweden für den Transport von Kriegsmaterial in die von der deutschen Wehrmacht besetzten Länder Norwegen und Finnland, die Schweiz für Transporte zwischen den Achsenmächten Deutschland und Italien. Während sich die Schweizer Armee ins Alpen- Reduit zurückzog, quasi kapitulierte, und auf den deutschen oder italienischen Feind wartete, rollte Kriegsmaterial der Achsenmächte Deutschland und Italien durch den Gotthard- Tunnel. Es gab für Hitler und Mussolini schlichtweg keinen Grund, die Schweiz zu erobern. Und General Guisan verbot bereits Anfang des Krieges den Abschuss von deutschen Transport- und Kampfflugzeugen über Schweizer Territorium, am Ende des Krieges wurden aber verirrte Bomber der Alliierten abgeschossen.

Mit diesen einseitigen Handlungen wurden die Achsenmächte Deutschland und Italien bevorteilt. Sowohl die Schweiz wie Schweden haben somit im 2.Weltkrieg gegen die Pflicht der Gleichbehandlung von Kriegsführenden in Bezug auf Ausfuhr und Durchfuhr von Kriegsmaterial gemäss HAAGER Abkommen verstossen. Geahndet wurden diese Verstösse nicht.

Sowohl Schweden wie die Schweiz mussten im 2.Weltkrieg vor der deutschen Übermacht kuschen. Dadurch konnte grosser Schaden abgewendet werden. Ein solches Verhalten ist nicht verwerflich. Es ist aber abwegig zu behaupten, dass die Schweiz Dank ihrer Neutralität vom 2.Weltkrieg verschont wurde. Das ist eine brandgefährliche Aussage, denn der neutrale Staat kann sich in falscher Sicherheit wägen. Im Gegenteil, die Schweiz wurde verschont, weil sie ihre Pflicht der Gleichbehandlung vom Kriegsführenden gezwungenermassen aufgeben musste, also nicht neutral sein konnte. Eine Gleichbehandlung von Kriegsführenden im Falle eines Krieges ist schlichtweg nicht möglich. Ebenso abwegig ist die Behauptung, dass die Schweiz wegen ihrer Wehrbereitschaft vom 2.Weltkrieg verschont wurde. Der Wille war zwar da, aber die Waffen fehlten. Das hat auch General Guisan Anfang des Krieges erkannt, und den Rückzug der Armee ins Alpen-Reduit befohlen.

 

Neutralitätspolitik des Bundes

 

Nichts desto trotz basiert die Neutralitätspolitik der Schweiz heute noch weitgehend auf dem HAAGER Abkommen mit der Pflicht der Gleichbehandlung von Kriegsführenden. Kein diesbezügliches Dokument des Bundes ohne den Hinweis auf das HAAGER Abkommen. Bund und Politiker, insbesondere Neutralisten, klammern sich an dieses 117 Jahre alte HAAGER Abkommen. Politiker müssen sich ernsthaft fragen, ob das Schweizer Volk hinter einer Neutralität der Gleichbehandlung von Kriegsführenden steht. Das ist sehr zu bezweifeln. Gleichbehandlung von Kriegsführenden tönt zu stark nach Optimierung von Waffenexporten. Geschäfte machen mit beiden Kriegsparteien, dem Aggressor und dem Opfer. Das kann nicht die Basis sein für die Neutralität der Schweiz. Unter Neutralität versteht das Schweizer Volk die «Nicht-Einmischung in fremde Konflikte oder Kriege» und nicht die «Gleichmässige Einmischung in fremde Kriege» nach dem HAAGER Abkommen.

 

Die Schweiz braucht ein neues Leitbild für ihre Neutralität.

 

Die Schweiz beruft sich zwar auf Ihre Neutralität, aber niemand weiss so richtig was dies bedeutet. Sie ist nirgendwo definiert. In der Bundesverfassung von 1848 ist die Neutralität nicht einmal erwähnt. Die Eidgenossenschaft resp. Schweiz leistete während vier Jahrhunderten Söldnerdienste im Ausland, bis er 1859 verboten wurde. Von einer neutralen Schweiz zu reden bevor der staatlich organisierte Söldnerdienst verboten wurde ist ziemlich abwegig, denn Söldnerdienst ist nun mal nicht verträglich mit Neutralität. Erst bei der ersten
Teilrevision der Bundesverfassung im Jahr 1874 wurde der Begriff Neutralität in die Bundesverfassung aufgenommen, ohne zu spezifizieren, was darunter zu verstehen ist. Es wird lediglich festgehalten, dass der Bundesrat resp. die Bundesversammlung Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit und der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz treffen kann. Und genau das will die SVP mit einer Neutralitäts- Initiative ändern.
Bevor über eine Neutralitätsinitiative abgestimmt wird, müsste aber klar sein, welche Neutralität die Schweiz will oder braucht. Und das kann nicht eine Neutralität der Gleichbehandlung von Aggressor und Opfer sein gemäss HAAGER Abkommen. Die Schweiz muss auch begreifen, dass Neutralität eines Staates kein Recht, sondern eine selbst auferlegte Pflicht ist. Natürlich hat jeder Staat ein Recht auf Neutralität. Aber mit der Erklärung der Neutralität verpflichtet sich ein Staat, sich nicht in fremde Konflikte oder Kriege einzumischen. Jeder Staat kann aber seine Neutralität so auslegen wie er will. Der neutrale Staat muss sich nicht von fremden Richtern vorschreiben lassen wie er seine Neutralität definiert und lebt, die Schweiz schon gar nicht.
Die Schweiz braucht ein neues Leitbild für Ihre Neutralität. Dieses Leitbild muss einfach und leicht verständlich sein. Und dabei gilt ein wichtiger Grundsatz: Sicherheit und Wohlfahrt geht vor Neutralität. Auf dieser Basis kann eine einfache Definition für Neutralität abgeleitet werden:

Neutralität eines Staates ist die selbst auferlegte Pflicht, sich nicht in fremde Konflikte oder Kriege einzumischen, ausser wenn seine eigene Sicherheit und Wohlfahrt bedroht ist.

Nach diesem Leitsatz müsste sich die Bundespolitik in Zukunft ausrichten, insbesondere in Bezug auf das Kriegsmaterialgesetz KMG. Neutralität muss flexibel gehandhabt werden. Eine detaillierte Fixierung der Neutralität in der Bundesverfassung für alle Ewigkeit ist abwegig. Das will nicht heissen, dass die Schweiz den Neutralitätsstatus aufgeben muss. Aber die Aufrechterhaltung der Neutralität hat unter den heutigen geopolitischen Umständen mit den teuren und hochkomplexen Waffensystemen mit riesigem Zerstörungspotential ihre Grenzen. Die Schweiz muss ihre humanitäre Rolle pflegen und sich in Konflikten oder Kriegen als Vermittler engagieren. Aber grosse Konflikte oder Kriege besiegeln können nur Grossmächte.

1.August 2024 Daniel Seiler, Autor vom Amazon E- Book «NEUTRALITÄT – Fluch oder Segen?»

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