Das Glas ist mehr als halb voll von Rolf Jeker

Wir Schweizer tun uns bei Abstimmungen über internationale Verpflichtungen schwer. Unweigerlich kommt der Vorwurf aus rechtkonservativen Kreisen, dass unsere Souveränität und Neutralität in Gefahr sind.

Die Schweiz als weltoffenes Land
So geschehen bei früheren Abstimmungen zum EWR, Beitritt zu Weltbank und IMF, der UNO (einschliesslich Kritik später an Teilnahme als Sicherheitsrat Mitglied). Geschehen ist in der Folge normalerweise nichts, welches die direkt-demokratischen Rechte der Schweiz eingeschränkt hätte. Der Bürger hat diese Entwicklungen kaum wahrgenommen. Gäbe es diese Institutionen nicht, hätte die Schweiz sie im ureigenstem Interesse fordern müssen, da sie die politischen und wirtschaftlichen Eckwerte der
Weltwirtschaftsordnung bestimmen, die für eine weltoffene Wirtschaft wie jene der Schweiz, lebensnotwendig sind. Wie gehabt, schiessen sich dieselben Kräfte auf die Weiterführung der Bilateralen III ein. Zwar ohne Fakten, dafür mit viel Hellebarden-Gefuchtel. Von Bürokratiemonster EU, Fremden Richtern, Kolonialvertrag usw. ist die
Rede.

Man meint den Sack und schlägt den Esel
Absicht ist die EU zu verunglimpfen, damit der Stimmbürger auch die Fakten der Bilateralen III mit der EU vermischt und damit sich die schlechte Meinung auf das Bilaterale III Paket überträgt. Wir müssen ja die EU nicht schönreden, aber auch nicht verdammen und kritisieren. Eine prosperierende Zukunft der EU ist in unserem ureigensten Interesse. Der Wunschtraum jedes Exporteurs ist es doch 450 Millionen Konsumenten in 27 Ländern zu gleichen Bedingungen und gleicher Währung zu beliefern und Waren zu beziehen (letzteres ist volkswirtschaftlich genauso wichtig wie Exporte). Viel Bürokratie wird damit vermieden. Gegner scheinen hingegen (trumpische) Sympathie mit den USA zu haben; obwohl es die USA sind, die uns laufend fremdbestimmt Entscheide aufgezwungen haben – ohne dass wir am Ende die geringste Chance einer Gegenwehr hatten (oder dass die USA diese Verpflichtungen selbst übernommen hätte). So geschehen bei der Frage der jüdischen Bankkonten in der Schweiz, Bankgeheimnis und Informationsaustausch, Mindeststeuer für multinationale Unternehmen, usw. Auch die Hoffnung der Gegner auf ein FH Abkommen mit den USA als Ausgleich zu einem Abkommen mit der EU, muss als naive Träumerei der Gegner klassifiziert werden. Die USA fährt einen protektionistischen Kurs (schon unter Biden) und selbst wenn die USA zum einem FH-Abkommen bereit wären, würde unsere Landwirtschafts-Lobby mit aktiver Unterstützung der SVP, solch ein Abkommen zu Fall bringen.

Da klingen auch Sätze wie in IP zu lesen hohl: ‘’Wir wehren uns gegen jede rote Linie, die uns von der EU oder – demnächst Donald Trump gesetzt wird’; (Stöhlker).
Bei dieser Stammtischrhetorik fehlte nur noch die Unterschrift von Wilhelm Tell.

Die Bilateralen III sehen keinen Beitritt zur EU vor: es gilt zu relativieren
Es kann nicht genug gesagt werden, dass der Zustand der EU für die Bilateralen III keine Rolle spielt. Wir treten der EU nicht bei. Die Bilateralen III sind massgeschneidert. Wir behalten unseren Schweizerfranken, entscheiden über unsere eigenen Steuern, die direktdemokratischen Rechte sowie der Föderalismus bleiben unangetastet, wir behalten freie Hand bei der Aussenwirtschaftspolitik um weiterhin mit allen Ländern Abkommen
abzuschliessen und die (politisch sensible) Landwirtschaft ist nicht betroffen.
Von den neuen Regelungen der Bilateralen III, wären sieben Abkommen betroffen; dies im Verhältnis von 200 Verträgen, welche die Schweiz heute mit der EU abgeschlossen hat, also weniger als 10%. Das oftmals angesprochene EU-Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz oder die Konzerninitiative haben mit den Bilateralen III Abkommen nichts zu tun. Vergessen wir auch nie, dass die Schweiz selbst hunderte von Jahren brauchte, um sich zum heutigen Bundesstaat zusammenzuraufen. Geben wir der EU in unserem eigenen Interesse doch auch eine Chance.

 

Die vorliegenden Verhandlungs-Ergebnisse lassen sich zeigen
Das vorliegende Verhandlungs-Ergebnis zeigt, dass das Glas mehr als halb voll ist und für die Schweiz eine gute massgeschneiderte Lösung ist, um
unsere Beziehungen mit den Bilateralen III mit der EU weiterzuführen. Gegenüber dem gescheiterten Rahmenabkommen wurden zusätzliche Konzessionen erreicht; selbst gegenüber den in den Vorgesprächen erzielten Grundsätzen (dem Common Understanding) ist dies der Fall. Die EU hat früher gewährte Ausnahmen fortgeschrieben und viele Neue zugestanden. Bei den neuen Abkommen wurden alle schweizerischen Sonderwünsche (zB Ausnahme service public usw.) akzeptiert; dies ist eigentlich teilweise zu bedauern, da damit in diesen Bereichen notwendige innerschweizerische Reformen vermieden werden.
Die wirtschaftlichen Vorteile liegen für die Schweiz klar auf der Hand; die institutionellen Aspekte sind soweit abgesichert, dass uns politisch keine
Nachteile entstehen und sowohl die direkt-demokratischen Rechte und der Föderalismus nicht beeinträchtigt sind. Daran ändern auch die mantramässigen Aussagen, dass die schweizerische Demokratie in Gefahr sei, nichts. Eine Verhandlung ist ein Geben und Nehmen; am Schluss gilt es eine Güterabwägung vorzunehmen. In der EU müssen 27 Staaten ihre Zustimmung jeweils geben, welche teilweise auch unter sich unterschiedliche Anliegen haben. Maximalforderungen können von keiner Seite durchgesetzt werden.

Dass der Bundesrat ein Paket vorschlägt es aber für die Abstimmung aufteilt, ist folgerichtig. Der Stimmbürger muss die Wahl haben separat einerseits über die Weiterführung der bestehenden Abkommen und anderseits den drei neuen Abkommen abzustimmen. Diese Aufteilung wurde möglich, da für den Einschluss der drei neuen Abkommen in erster Linie die Schweiz Interesse bekundet hat. Die Bilateralen III bringen gegenüber heute mehr Rechtschutz und mehr Mitsprache. Differenzen können über ein paritätisches Schiedsgericht (nicht EU-Gerichtshof) ausgetragen werden. Bei der dynamischen (nicht automatischen) Übernahme von Binnenmarktbestimmungen erhält die Schweiz eine Mitsprache und beendet damit den unwürdigen ‘autonomen
Nachvollzug’ von EU-Recht. Das Schengen-Dublin Abkommen (und auch das bestehende Luftverkehrsabkommen) enthält bereits die dynamische
Rechtsübernahme, wie diese auch bei den neuen Abkommen vorgesehen sind. Das Schengen-Dublin Abkommen ist der Beweis, dass die
direktdemokratischen Rechte dadurch nicht eingeschränkt wurden; vier Referendumsabstimmungen fanden dazu statt. Diese der Schweiz gewährte Mitsprache und Schiedsgerichtsbarkeit gehen weit darüber hinaus, was die Schweiz Liechtenstein für die Teilnahme am schweizerischen Binnenmarkt anbietet: nämlich weder Mitsprache noch Rechtschutz.

Sollte die Schweiz gewisse Bestimmungen nicht übernehmen wollen, stehen Ausgleichsmassnahmen (nicht Strafen oder Bussen) zur Diskussion. Dieser
Mechanismus ist in internationalem Handelsrecht geläufig. Diese neue Vorgehensweise verhindert auch unilaterale Massnahmen gegen die Schweiz, welche die EU betreffend Forschungsteilnahme oder Börsenequivalenz vorgenommen hatte. Fairerweise muss man aus Sicht der EU auch darauf hinweisen, dass dies zum Teil eine rechtliche Konsequenz – als Folge des Rückzuges des (eingeschlafenen) schweizerischen Beitrittsgesuches – war.

Die Schweiz hat mit diesem Rückzug der EU – ungewollt – einen Steilpass
geliefert. Übernacht wurde die Schweiz zu einem Drittstaat. Wäre vielleicht es manchmal empfehlenswert schlafende Hunde nicht zu wecken.

 

Kohäsionszahlungen als Weiterführung schweizerischer bilateraler Hilfe
Die Gegner beklagen den Kohäsionsbeitrag als schweizerische Tributzahlungen. Dieses Argument greift zu kurz, wobei historisch gesehen
solche Unterstützungszahlungen schon seit 1990 bilateral durch die Schweiz erfolgen. Nach dem Fall der Berliner Mauer entschieden Bundesrat und Parliament 1990 ein zweites Standbein in der Schweiz Entwicklungsploitik zu eröffnen: die Osthilfe, an dessen Aufbau der Autor massgeblich mitgewirkt hat. Dabei ging es darum, diesen Ländern bei ihrer wirtschaftlichen Entwicklung beizustehen und sie in die Marktwirtschaft zu integrieren. Es war eine
Solidaritätsbekundung seitens der Schweiz, die (richtigerweise) nicht frei von wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Überlegungen war. Der EU-Bezug stand nie zur Diskussion. Die Hilfe war und blieb ausschliesslich bilateral.

Erst später war es zielführend von diesen Beiträgen als Kohäsionszahlungen zu sprechen, da diese Beiträge gleichzeitig den Erwartungen der EU an die Schweiz gleichgestellt (subsumiert) werden konnten. Daran hat sich nichts geändert. Es gibt auch zukünftig keine Beiträge an die EU. Die Unterstützung wird aufgrund bilateraler Verträge mit den Empfängerländern abgewickelt. Den Inhalt definieren die Schweiz und das Empfängerland. Dabei stehen nicht nur politische Interessen der Schweiz auf dem Spiel, sondern handfeste wirtschaftliche Interessen in Form von knowhow, Dienstleistungs- und Warenlieferungen.
Bis 2030 bleibt der Betrag auf gleichem Niveau um dann ab diesem Datum auf 350 Mio aufgestockt zu werden. Diese Mittel sind Teil des gesamten Entwicklungsbudgets des Bundes und es ist am Parlament zu entscheiden ob damit Mehrausgaben entstehen oder durch andere Entwicklungshilfeausgaben kompensiert werden.

 

Personenfreizügigkeit in einem sich demographisch veränderndem Umfeld
In einem Umfeld starker demographischer Veränderungen; Geburtenraten unter 2.1 und Überalterung – und dem sich noch verstärkt ansteigenden Fachkräftemangel ist das Freizügigkeitsabkommen in unserem ureigensten Interesse.

Auch die schweizerische Bevölkerung (Fertilitätsrate 1.39%) nimmt ab und unsere Einwohnerzahlen steigen nur noch wegen der Zuwanderung und
längerer Lebensdauer. Die Nachfrage nach Fachkräften ist durch unser Wachstum bestimmt – sei es volkswirtschaftlich, seien es Nachfrage nach
Gesundheitsleistungen.

Ohne Rückgang der Nachfrage wird die Zuwanderung weitergehen; es sei denn wir können zusehends weitere inländische Arbeitskräfte mobilisieren und ausbilden (zB Ärzte). Die Kündigung des Personenfreizügigkeitsabkommens würde die Nachfrage nach zugewanderten Fachkräften nicht begrenzen. Hingegen – wie geschehen nach Brexit – kommen die gesuchten Arbeitskräfte aus ferneren Ländern und Kulturen. Eine Kontingentierung ändert nichts an der Nachfrage, sondern hätte nur eine (so sehr von Gegnern beklagte) Bürokratisierung und Ineffizienz zur Folge. Man spielt mit dem Feuer.

 

Opposition, einschliesslich unheiligen Allianzen

Opposition gegen das Vertragspaket der Bilateralen III gibt es natürlich zuhauf. Zu hoffen ist, dass man gut schweizerische Attribute bei der Debatte anwendet. Man ‘schiesst ‘nicht auf Mann oder Frau; gar unschweizerisch ist es ausländische Staatsoberhäupter und Bundesräte zu verunglimpfen. Es ist ja so einfach aus einer gesicherten Werkstatt – ohne öffentliche Verantwortung zu tragen – zu kritisieren.
Die Opposition gegen die Bilateralen III ist sehr heterogen zusammengesetzt. Einerseits die SVP, die (schon immer) klar dagegen war und auf der Gegenseite die GLP, die klar dafür ist. Jene, die noch auf der Stange sitzen und ‘werweisen’ (Mitte, FDP) oder sich im Schatten der Gewerkschaften
verstecken (SP), werden sich eine Meinung bilden – und dann mit den Konsequenzen – leben müssen. Kompass hat die Entwicklungsphase zum GPS verschlafen und bleibt in der Vergangenheit behaftet. Die Organisation versucht mit viel Geld in die Kommunikation den Bürger zu verwirren. Dies mit einer grundsätzlich undemokratischen und rechtstaatlich fragwürdigen Initiative, die bei ‘völkerrechtlichen Verträgen’ zusätzlich zum Volksmehr ein Ständemehr – also ein doppeltes Ja verlangt. Rechtlich enthalten die Bilateralen III nichts, um ein Ständemehr zu rechtfertigen. Die darin enthaltene Rückwirkungsklausel (wie die der Juso) ist rechtstaatlich fragwürdig; ein Volksmehr könnte am Ständemehr scheitern. Die Stimme eines Appenzellers wäre etwa 40x mehr wert als jene einer ZürcherIn! Die Initiative könnte für Kompass zum Bumerang werden. Ähnlich gelagerte
Vorstösse wie die Selbstbestimmungsinitiative (Blocher) und ‘Staatsverträge vor das Volk’ erhielten vom Volk geradezu eine Abfuhr mit nur 34% bzw. 25% Zustimmung. Die Schweizer Stimmbevölkerung sollte gegenüber oligarchischen Eingriffen in unser Staatswesen skeptisch sein. Geldgier und
Machtstreben sind Zwillinge.

 

Verrat an Arbeitnehmern: man macht den Bock zum Gärtner
Geradezu verstörend ist die Opposition der Gewerkschaften, die bei genauem Hinsehen wohl ein Verrat an der Arbeiterschaft ist, aber finanzlogisch Sinn macht. Der Lohnschutz ist gewährleistet; sogar mit einem Non-Regression Clause abgesichert. Die Spesenlösung ist logisch unbefriedigend, aber unwesentlich in der Gesamtsicht und wird auch von unseren Nachbarstaaten flexibel angewandt. Absicht der Gewerkschaften ist es zusätzliche abkommensfremde Konzessionen als Kompromiss zu erhalten. Das von den Gewerkschaften hochstilisierte Problem beschränkt sich auf die Entsenderichtlinie. Sie betrifft nur 0.7% der schweizerischen Arbeitsplätze.

Weshalb der Fokus trotzdem darauf besteht, ist damit zu erklären, dass die Gewerkschaften die Einhaltung dieser Abmachungen selbst überprüfen und
dafür Millionenentschädigungen erhalten. Ohne diese Gelder wären die Gewerkschaften nicht überlebensfähig. Man macht also den Bock zum
Gärtner und zahlt ihn noch dafür. Sachfremde Konzessionen sollten tunlich vermieden werden. Die Schweiz braucht weder Mindestlöhne noch eine weitere Ausdehnung von allgemeinverbindlichen Branchenabkommen. Statt wesensfremde

Konzessionen zu diskutieren, müsste das Mandat der Überwachung in Frage gestellt werden. Normalerweise müssten solche Mandate öffentlich
ausgeschrieben werden. Vor allem ist auch mehr Transparenz durch die Publikation von Jahresberichten zu fordern. Ohne Bilaterale III ist auch kein
Grund mehr gegeben, am Lohnschutz festzuhalten.

 

Die Kosten trägt die werktätige Bevölkerung und die Jugend
Die Frage, was bei einer Ablehnung der Bilateralen III geschehen würde, verdient noch eine vertiefte Analyse. Die Gegner meinen es gehe so weiter,
wie bisher oder ein FH-Abkommen erfülle diesen Zweck auch. Sicher ist, dass die bestehenden Verträge allmählich erodieren und neue Hürden für
Exporteure entstehen. Beim Brexit hat dies bewirkt, dass 20’000 Exporteure nicht mehr in der Lage waren in die EU zu exportieren. Einen ähnlichen Effekt wird es auch bei uns geben. Eine zusätzliche Verlagerung ins nahe Ausland wird unweigerlich stattfinden.
Ich wage zu behaupten, dass kein Einziger oder Einzige, die heute mit Hellebarde gegen die Bilateralen III öffentlich und lautstark als Gegner
antreten von den unausweichlichen negativen wirtschatlichen Folgen betroffen sein werden. Alle sind gut situiert durch persönlichen Wohlstand oder bestehenden Mandaten und Pfründen. Die Zeche zahlen die Arbeiter und Angestellten und vor allem die jüngere Generation, die schon bei der AHV und Pensionskassen von den Alten geplündert werden. Forschung und Innovation werden geschwächt.
Es sind nicht die Unternehmen, die die Zeche bezahlen werden. Unternehmen werden bei Bedarf in die EU verlagert – wie dies gemäss eigener Aussage der Präsident der AutonomieSuisse mit seinen Firmen bereits vollumfänglich gemacht hat. Irgendwie geht das Leben immer weiter und die Wirtschaft passt sich an. So geschehen bei der Ablehnung des EWR. Kosten und Wohlfahrtsverluste sind damit verbunden. Der Bundesrat musste ein Revitalisierungsprogramm
aufgleisen. Dies würde wohl bei der Ablehnung der Bilateralen III wieder der Fall sein müssen. Eigenen Reformstau haben wir genug selbst bei uns ohne
sie bei der EU suchen zu müssen.
Ich hege grösste Zweifel, dass ein solches Reformprogram im Parlament, Volk und Ständen Zustimmung finden wird. Zu sehr sind wir an der Verteilung von Mitteln verwöhnt. Zu welchen Diskussion die EU noch bereit wäre ist dahingestellt.
Der Schweiz stehen wichtige Entscheide an, die für ihre Zukunft und die Zukunftschancen unser Jungen wesentlich sein werden. Die Debatte sollte
zivilisiert und faktenbasierend dem Stimmbürger den Entscheid erleichtern: ohne zu überdramatisieren oder zu beschwichtigen.
Die Umfragen zeigen, dass wohl 49% der Schweizer die EU kritisch sehen aber pragmatisch über 70% die Bilateralen III grundsätzlich unterstützen –
darunter sogar eine Mehrheit von SVP -Wählern… und mit Ausnahme Schwyz auch alle Kantone.
Die sich am Horizont abzeichnenden Handelskonflikte, die im Extremfall einen Kollateralschaden in der Schweiz auslösen könnten, dürften vielen wieder bewusstmachen, dass wir wirtschaftlich und kulturell eng mit Europa
verbunden sind.

 

Rolf Jeker war Konzernleitungs-Mitglied SGS, Wirtschaftsdiplomat und Präsident von Switzerland Global Enterprise (ehemals OSEC).

Europäischer Aussenseiter Schweiz (Daniel Woker)

Über Sachprobleme hinaus sind es drei strukturelle Gründe, warum die Schweiz als isolierter europäischer Aussenseiter dasteht: Nichtteilnahme, Innen-statt Aussenpolitik sowie mangelndes Verständnis für Europa. Das hat auch wirtschaftliche Konsequenzen.

Meinungsumfragen zeigen, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizermehr für die Ukraine tun will, auch militärisch, und dass diese Mehrheit Einvernehmen mit der EU will.

Die offizielle schweizerische Aussenpolitik scheint dies nicht zur Kenntnis zunehmen; somit bleibt die Schweiz in diesen zwei weitaus wichtigsten Dossiers ihrer Aussenbeziehungen blockiert. Jenseits der dafür immer wieder angeführten Sachprobleme von Neutralität bis zur Arbeitszeitregelung im Binnenmarkt sind dafür mangelnde Teilnahme an und Verständnis für Europa verantwortlich.

Im Gegensatz zu allen anderen europäischen Staaten ist die Schweiz und speziell ihre Minister, also der Bundesrat und seine Staatssekretärinnen in den beiden ausschlaggebenden Organisationen nicht präsent, in denen Europa seine Interessenwahrnimmt und verteidigt: in der EU und in der Nato. Das führt zu den dreifolgenden strukturellen Problemen: Mangelnder Kontakt, Innen- statt Aussenpolitik, Europa sind auch wir.

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Tag der Aussenpolitik 2023: Die Rückkehr der Politik in die Weltwirtschaft

Internationale Spannungen und gegensätzliche wirtschaftlich-politische Systeme dämpfen den Welthandel, ohne die Globalisierung umzukehren. Die Schweiz steht namentlich vor der Frage, ob sie wie die grossen Akteure mit einer gezielten Industriepolitik auf das Klimaproblem und auf das Risiko sicherheitsrelevanter Abhängigkeiten reagieren soll. In dieser Situation richtete sich der Blick über den nationalen Tellerrand (und die alten bilateralen Streitfragen) hinaus auf die Perspektiven Europas im veränderten internationalen Umfeld – Perspektiven, die wohl auch für das EU-Nichtmitglied massgebend sind.

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Österreich bleibt neutral ist jedoch im Rahmen der Mitgliedschaft in der EU mit ihren europäischen Partnern voll solidarisch. Und die Schweiz?

von Josef Aregger, Wien 24.4.2023

Wie die Schweizer sind auch die Österreicher und die Österreicherinnen grossmehrheitlich überzeugt, dass die Neutralität ihres Landes identitätsstiftend und wertvoll ist. Sie hat dem Land massgeblich geholfen, den Staatsvertrags von 1955 abzuschliessen und damit entscheidend zur Wiedererlangung der vollen Souveränität beigetragen. In einer Umfrage angesichts des Ukrainekriegs haben 70 % der Befragten erklärt, die Neutralität sei ihnen sehr wichtig und für weitere 21 % war sie eher wichtig.[1] Und trotzdem wird Österreich wegen des Status als immerwährend neutrales Land nach dem Vorbild der Schweiz deutlich weniger an den Pranger gestellt als die Schweiz.

Dies ist allerdings nicht erstaunlich. Denn seit dem Beitritt zur EU gilt laut dem Artikel 23j des österreichischen Verfassungsgesetzes, dass die Neutralität nicht zur Anwendung kommt, wenn die EU im Rahmen der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) einschliesslich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik handelt. In der österreichischen Presse liest man den Satz: „Die Neutralität stellt in den Augen der Partnerstaaten kein Problem dar, solange Vertreter aus Wien sich daran halten, was das Land bereits 1995 beim EU-Beitritt vertraglich zugesichert hat: im Krisenfall steht Solidarität über der Neutralität. Samt Beistandspflicht.“[2]

Somit trägt Österreich in solidarischer Weise seinen Teil zur Finanzierung der Friedensfazilität bei. Unter dem Namen Friedensfazilität hat die EU einen haushaltexternen Fonds eingerichtet zur Verbesserung der Fähigkeit zur Konfliktverhütung, zur Friedenskonsolidierung und zur Stärkung der internationalen Sicherheit Die Obergrenze des Fonds wurde am 13. März 2023 für den Zeitrahmen bis 2027 auf insgesamt knapp 8 Mrd. € angehoben. Der Rat der Europäischen Union hat am 20. März 2023 im Rahmen der Friedensfazilität die Lieferung und Beschaffung von Munition für die Ukraine beschlossen. Das neutrale Österreich bezahlt seinen Beitrag nach dem Schlüssel, der sich nach dem BIP der Mitgliedstaaten richtet. Sodann gibt’s einen Beschluss der EU, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, Waffentransport in die Ukraine durch ihr Staatsgebiet zuzulassen. Auch diesen Beschluss trägt Österreich mit.

Aber nicht nur als EU-Mitglied sind im Verfassungsgesetz Grenzen der Neutralität festgeschrieben. Die Neutralität kommt ebenfalls nicht zur Anwendung, wenn der UNO-Sicherheitsrat Massnahmen nach Kapitel VII der Satzung der Vereinten Nationen anordnet. Dies gilt aufgrund einem seit 1990 (Überfall auf Kuweit) geltenden revidierten[3] Verständnis der aus der Satzung der Vereinten Nationen erwachsenden Verpflichtungen.

Die FPÖ kritisiert die Regierungspolitik und lehnt die Verpflichtungen, die durch den EU-Beitritt eingegangen wurden ab genauso, wie dies die SVP und weite Kreise darüber hinaus in der Schweiz praktizieren. Jedoch in Österreich sind die Entscheidungen im Sinne des oben ausgeführten längst gefallen und erlauben dem Land als neutraler Staat Solidarität zu zeigen, weil die Neutralität klar auf den militärischen Teil derselben beschränkt ist.

Was ist daraus zu schliessen? Österreichs Neutralität unterscheidet sich beträchtlich von der Praxis der schweizerischen Neutralität. Die Schweiz hingegen scheut die innenpolitische Auseinandersetzung, obwohl es nicht darum geht, die Neutralität abzuschaffen. Es ist lediglich notwendig, die Handhabung des Instruments der Neutralität an die Anforderungen der heutigen Situation und an die aussenpolitischen Interessen des Landes anzupassen.

  • Um die Zustimmung in der Volksabstimmung über den UNO-Beitritt nicht zu gefährden haben die Befürworter im Vorfeld der Abstimmung von 2002 daran festgehalten, dass sich mit der Mitgliedschaft in der UNO für die Neutralität nichts ändert. Die Schweiz hält an ihrer Praxis der Neutralität vollumfänglich fest, obwohl es wenig sinnvoll ist, der Weltöffentlichkeit erklären zu wollen, dass wir in einem Konflikt, in dem der UNO-Sicherheitsrat Massnahmen ergreift, die UNO nicht unterstützen können, weil wir neutral sind. Im Ukrainekrieg kommt dies ohnehin nicht infrage, weil Russland jede Massnahme des Sicherheitsrates mit seinem Veto verhindert. Abgesehen davon können wir jedoch auch unsere nächsten Partner, auf die wir wirtschaftlich und politisch und letztlich auch sicherheitspolitisch angewiesen sind nicht überzeugen, dass wir ein wichtiger Partner bleiben, wenn wir im Krieg Russlands gegen die Ukraine abseits stehen. Die Neutralität der Schweiz muss um sinnvoll zu sein auch im Interesse der Staaten bleiben, die die Neutralität anerkennen.
  • Im aktuellen Konflikt in der Ukraine werden wir als nicht neutral betrachtet, weil wir mit unserer Weigerung, der Weiterlieferung von schweizerischen Gepardpanzern und der dazugehörigen Munition aus Deutschland an die Ukraine zuzustimmen, in den Augen unserer Kritiker gleichsam Russland helfen. Österreich hingegen gilt weiterhin als neutral. Natürlich ist der an die Schweiz gerichtete Vorwurf rein rechtlich nicht haltbar. Beim Beharren auf unserem Standpunkt in koolhaasscher Manier geht jedoch viel aussenpolitische Reputation verloren.
  • Und es wäre wohl sinnvoll, wenn die Schweiz bei der Aufspürung der Oligarchengelder mit den westlichen Partner enger zusammenarbeitete. Damit würde sie zeigen, wie sehr ihr daran liegt, solidarisch zu sein. Ob Gelder aus eigentumsrechtlichen Gründen zu sperren oder zu konfiszieren sind, kann ja erst entschieden werden, wenn die Konten und Vermögen bekannt sind. Sich hinter der Neutralität zu verstecken ist allemal für den Status der schweizerischen Neutralität schädlich.

[1] 3. und 4. März 2022 online durchgeführte Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE).

[2] Der Standard vom 11.4.2023: Österreich in Europas Sicherheitspolitik, und doch nicht ganz dabei.

[3] Am 9. August 1990 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat einstimmig die Resolution 662, welche die Annexion Kuwaits durch den Irak für „null und nichtig“ erklärte und die Wiederherstellung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität Kuwaits forderte.

«Nur im Krieg zeigt sich…wer deine echten Freunde sind» (Daniel Woker)

Dies sagt der ukrainische Berufssoldat «Waleri» in einer NZZ-Reportage aus Grossbritannien. An einem geheimen Ort in Südwestengland wird er zum Kampf gegen Putins völkermörderische Armee ausgebildet. Die Aussage zeigt: Die Schweiz ist kein echter Freund der Ukraine.

«Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, uns mehr Waffen und Munition zu schicken, dann tut das bitte», sagt Waleri in der NZZ-Reportage. «Wir brauchen für die kommenden Monate wirklich alles, was wir bekommen können.»

Grossbritannien hat in absoluten Zahlen nach den USA am meisten Mittel zur Unterstützung der Ukraine ausgegeben. Dazu gehören schwere Panzer und die Ausbildung ukrainischer Militärangehöriger. Die Schweiz könnte beides auch tun, tut es aber nicht.

Panzer

Bekanntlich stünden seit Monaten eine grosse Anzahl von ausgemusterten Kampfpanzern Leopard II in der Ostschweiz bereit, um im Ringverkauf via Deutschland oder direkt an die Ukraineabgegeben zu werden. Dies hat auch die schweizerische Verteidigungsministerin bestätigt. Entgegen den Behauptungen des Gesamtbundesrates ist dies sowohl von der Neutralität her, wie das die namhaftesten Völkerrechtler der Schweiz erschöpfend dargelegt haben, als auch basierend auf der geltenden Gesetzgebung über Kriegsmaterialausfuhr möglich: wenn nötig mit Notrecht, welches vom selben Bundesrat zur Rettung des Finanzplatzes Schweiz schnell und ohne Gewissensbisse angewandt worden ist.

Ausbildung

Die Schweiz könnte ohne weiteres jetzt ukrainische Soldatinnen und Soldaten ausbilden, wenn wir nur wollten.

Wie das, da sich doch die Ukraine im Krieg befindet?

Die Antwort ist in dieser Antwort des Bundesrates auf eine Interpellation von Nationalrat Pierre-Alain Fridez vom 19.9.2012 zu finden:

(Es trifft zu, dass) russische Soldaten in den Genuss einer militärischen Ausbildung durch die Schweizer Armee gekommen sind. Zwei Detachemente der russischen Streitkräfte haben dieses Jahr in Andermatt im Kompetenzzentrum Gebirgsdienst eine Ausbildung absolviert.

Das war zwar vor dem Beginn von Putins Aggression gegen die gesamte Ukraine, aber nur kurz vor dem von Russland entfesselten Donbass-Konflikt und nach den russischen Aggressionen in Georgien und anderen Regionen der ehemaligen UdSSR. Die wahre Absicht von Putin, das ganze Gebiet der UdSSR wiederherzustellen, war schondamals publik und allgemein bekannt. Offensichtlich hat damals die Neutralität für den Bundesrat keine Rolle gespielt, sondern, wie er in der Interpellationsantwort ausführt:

Zu dieser auf Vertrauen und Gegenseitigkeit beruhenden Zusammenarbeit(mit Russland) zählen auch regelmässige Konsultationen auf den Gebietender Menschenrechte und der Sicherheit.

Die Moral

Nach all den politischen, juristischen und auch wirtschaftlichen Argumenten, ist die Moral der wichtigste Grund, weshalb die Schweiz mehr für die um ihr Überleben kämpfenden Ukraine tun muss.

Einer der berühmtesten, mit europäischen Preisen überhäufter, zeitgenössischer Schriftsteller der Ukraine, der in Russland geborene und im Original russisch schreibende Andrei Kurkow, ein mit einer Engländerin verheirateter ukrainischer Staatsbürger, welcher mitseiner Frau in der Ukraine ausharrt, schildert ebenso konzis wie unnachahmlich, wie es sich anfühlt von einem «Brudervolk» mit Krieg, Verwüstung, Folter und Tod überzogen zu werden. Mit dem er zudem eine Kultur teilt, welche zu den wichtigsten Weltkulturen gehört und unvergleichliche Literatur geschaffen hat. Eine Kultur, welche nun von Putin, seinen Schergen und seinen schleimenden Lawrow-Diplomaten in den Schmutz gezogen und nachhaltig beschädigt wird. (Andrei Kurkov, Tagebuch einer Invasion: Aufzeichnungen aus der Ukraine, Maymon, Oktober 2022).

Den schweizerischen Neutralität-Fetischisten ist anzuraten, Kurkows Buch aufmerksam zu lesen: Wenn sich diese dann, ohne Schamröte im Gesicht, weiterhin zur reinen und vollständigen Neutralität bekennen, welche zu wichtig sei, um kurzfristigen moralischen Einwänden Rechnung zu tragen – wie sich ein Genfer Völkerrechtsprofessor gegenüber dem Schreibenden sinngemäss ausgedrückt hat – tragen sie die volle Verantwortung, als vermeintliche Experten die Schweiz auf den moralischen Irrweg geführt zu haben.

Kein Freund

Kein Freund der Ukraine zu sein in ihrer schwersten Stunde – der anlaufende Befreiungsvorstoss in der Ost- und Südukraine dürfte entscheidend werden – wird für die Schweiz Folgen haben. Politische, wirtschaftliche und vor allem auch moralische. Im Gegensatz zum Brexit-Grossbritannien, das sich nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten in der Ukraine engagiert, zeigen wir uns nicht solidarisch mit dem demokratischen und rechtsstaatlichen Europa. Daran wird die Schweiz gemessen werden, von unseren gleichgesinnten ausländischen Partnern und auch von den zukünftigen schweizerischen Chronisten. Gewogen und zu leicht gefunden.

G-7-Schelte für die Schweiz (Daniel Woker)

Einmal mehr geht eine Welle selbstgerechter Entrüstung durch die Schweiz: Die G-7 schilt die Schweiz wegen ungenügender Unterstützung der Ukraine und fehlender Gründlichkeit bei den Sanktionen gegen Russland; die Botschafter dieser Länder in Bern werden zu einem ‘klärenden’ Gespräch’ zitiert. 

Behördliche Reaktionen und jene in den Medien sind eindeutig: wie können sie das wagen, wo wir doch alle Sanktionen mitmachen und eben gleichzeitig ein sprichwörtlicher Rechtsstaat sind. Aber ist diese Pose selbstgerechten Patriotismus’, die Rolle der beleidigten Souveränitäts-Leberwurst angebracht? Eine nüchterne Betrachtung fällt klar negativ aus; es wäre vielmehr angebracht, die Demarche unserer wichtigsten Partnerländer als Alarmzeichen aufzufassen und unsere gesamte Ukrainepolitik einer Prüfung zu unterziehen.

Schlusslicht Schweiz

Die Schweiz ist am Schwanz der Rangliste aller westlichen Länder bei der Unterstützung der Ukraine gegen den Kriegsverbrecher Putin und seinen Aggressionskrieg. Die G-7 hat recht, die Schweiz muss und kann mehr tun. Die Lieferung von Kriegsmaterial, auch im Ringverkauf via eine dritte Partei, ist im Moment blockiert durch den Bundesrat. Die gegenwärtige offizielle Politik der Schweiz liegt damit auf der Linie rechter Nationalisten in der SVP und naiver Pazifisten in der grünen Partei, dürfte aber kaum einer Mehrheit in der Schweiz entsprechen.

Die viel zitierte und zur Verteidigung der offiziellen Position gern vorgebrachte humanitäre Hilfe, welche die Schweiz doch liefere – welche uns bislang nicht von den hintersten Rängen westlicher Unterstützung fortgebracht hat – reicht keineswegs aus, um den völligen Mangel an handfester Unterstützung zu kompensieren. Damit ist primär Kriegsmaterial und sind weiter Milliardenbeträge zur Zahlungsbilanzhilfe gemeint. Dieser Mangel wird auch keineswegs kompensiert durch die neu von BR Cassis genannten, höheren Beträge von humanitärer Hilfe, welche zudem teilweise auf Kosten anderer, eigentlich bereits zugesprochener Unterstützung im Ausland gehen.

Hinhaltepolitik

Vollends offensichtlich ist die Hinhaltepolitik des offiziellen Bern, was sowohl die Verwendung russischer Vermögenswerte als auch die Tätigkeit, und die Finanzen von in der Schweiz domizilierten Handelsunternehmen mit russischen Rohstoffen anbelangt. Als weltweiter Leader in der Vermögensverwaltung und Rohstoffhandelsplatz ist der Finanzplatz Schweiz eben auch Hauptdrehscheibe für russische Vermögen. Ein abstraktes Recht auf russisches Eigentum mit den buchstäblich von Tod und Vernichtung bedrohten Ukrainerinnen und Ukrainer – und deren Unterstützung durch beschlagnahmte russische Vermögenswerte – auf dieselbe Ebene zu stellen, ist lächerlich. Die russischen Gelder in der Schweiz stammen mindestens von Diebstahl am russischen Volksvermögen her – Stichwort überstürzte Privatisierung nach dem Zusammenbruch der UdSSR – und maximal von Korruption und der Umgehung von rechtsgültigen Sanktionen. Dies sind alles strafrechtliche Tatbestände, die hier das ‘Recht auf Eigentum’ absurd erscheinen lassen.

Schweizerisches Echo

Die Charakterisierung der diplomatischen Vertreter der G-7 Staaten, welche entsprechend beim Bundesrat vorstellig werden, als ‘Radau Diplomaten’, zu bezeichnen, so ein TA-Journalist, ist unklug und kontraproduktiv. Dies weil das Ansehen der Schweiz und damit auch die Einstellung unserer Partnerländer gegenüber schweizerischen Begehren, wie beispielsweise in der Europapolitik, sich momentan auf einem Tiefstand befindet. Zum selben Zeitpunkt, da letztere völlig festgefahren ist und ein globaler Bankencrash auch in der Folge der selbstverschuldeten Kernschmelze der Credit Suisse nur knapp abgewendet worden ist, stellen wir gegenüber der Ukraine auf stur. Wenn uns dies unsere wichtigsten und besten Partner via ihre Vertreter in der Schweiz in Erinnerung rufen, sind diese nicht ‚Radaubrüder‘, sondern tun ihren Job als Vertreter ihrer Regierungen.

Auch ein Rechtsprofessor, der in einem TA-Interview meint, es gäbe keinerlei Beweise für unrechtmässige Vermögenswerte von Russland und seinen Staatsangehörigen in der Schweiz, müsste vorsichtig sein. Die Vorwürfe der G-7 und speziell der USA würden wohl kaum in dieser öffentlichen Form vorgebracht werden, wenn nicht geheimdienstliche Erkenntnisse vorliegen würden, die das Gegenteil beweisen. Eine schweizerische Teilnahme an der internationalen Taskforce zur Überwachung der Ukrainesanktionen ist überfällig. Wenn diese dereinst die Beschlagnahmung russischer Vermögenswerte beschliesst, wird sich die Schweiz ohnehin anschliessen müssen. Wenn nötig mit Notrecht. Der Bundesrat hat mit der eigenmächtigen Abschreibung auf Null von international breit gestreuten CS-Obligationen eben erst gezeigt, dass dies im Notfall ohne weiteres möglich ist.

Der Notfall ist da

Hier liegt denn auch der springende Punkt. Im Gegensatz zum übrigen Westen hat man in Helvetien offenbar noch nicht begriffen, dass mit russischer Aggression und Putins Völkermord gegen die Ukraine ein wirklicher Notfall bereits eingetreten ist, für die Schweiz, für Europa und, zumindest, die Gesamtheit westlicher Länder. Um Putins Expansionswahn wirklich zu begegnen, muss er zunächst eine deutliche sichtbare Niederlage erleiden. Dies ist nur mit schneller und handfester Hilfe aus dem Westen möglich; erst dann kann über einen Waffenstillstand , damit den Wiederaufbau der Ukraine und später über vom Westen garantierte Grenzen gegen Russland gesprochen werden.

Wir sollten also die G-7 Mahnungen ernst nehmen, anstatt mit gekränktem Patriotismus wild um uns zu schlagen. Bekanntlich folgen auf diplomatische Demarchen Massnahmen, welche dann wirklich weh tun können, wie Boykotte und weiteres mehr.

Für einen bilateralen Pakt Schweiz-EU (D. Farman, I. Knobel, F. Vogel)

Vor genau einem Jahr im Februar 2022, präsentierte der Bundesrat einen neuen Verhandlungsansatz, um die Schweiz aus der europapolitischen Blockade zu führen. Inzwischen haben Sondierungsgespräche mit der EU stattgefunden, doch noch bestehen Hindernisse für eine einvernehmliche Lösung zur Fortsetzung des bewährten bilateralen Wegs. Diese gilt es zu überwinden.

Zur Weiterentwicklung des bilateralen  Wegs schlägt  dieses Diskussionspapier einen  bilateralen Pakt mit der EU vor. Mit den drei Dimensionen “Werte”, “Menschen” und “Zusammenarbeit” identifiziert dieses Diskussionspapier 15 Bedürfnisse der Schweiz und der EU, darunter Gleichbehandlung, Flexibilität und Effizienz, und analysiert zu welchem Grad sie tatsächlich ein Problem in den Verhandlungen darstellen.

Hier weiterlesen.

Wer beim Thema Schweiz – EU mitreden möchte: Tipps (Markus Mugglin)

Eine Buchwelle zu Schweiz – EU schwappt über das Land. Eine Übersicht und ein paar Tipps, was sich weshalb zu lesen lohnt.

Das Verhältnis Schweiz – EU ist bekanntlich schwierig. Es dreht sich seit Jahren um die gleichen Themen wie Rechtsübernahme, Streitschlichtung, Lohnschutz, Rahmenabkommen. Die Schweiz beteuert zwar, sie wolle weiterhin den bilateralen Weg beschreiten und sogar weiterentwickeln. Doch gleichzeitig ist die Beziehung gestört und blockiert.

Und doch bewegt sich ewas, zumindest auf dem Büchermarkt. Ausserordentlich viel sogar. Vier Verlage gaben in vorweihnächtlicher Zeit gleich fünf neue Titel heraus. Drei legen den Fokus auf das Verhältnis Schweiz – EU, ein Buch richtet den Blick auf das grosse Ganze in Europa mit einem Seitenblick auf die Schweiz, das fünfte Buch schaut auf Europa und auf das Beziehungsdrama zwischen der Schweiz und der EU.

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Europa Forum Impulspapier

Das Europa Forum präsentiert zum Thema «Let Europe arise. Welches Europa wollen die Millennials jetzt?» junge Ideen für den Alten Kontinent und liefert Denkanstösse und Handlungsempfehlungen, die Europa und damit auch die Schweiz stärken.

Das vollständige Impulspapier können Sie unter diesem Link lesen.

Interessenpolitik allein reicht nicht aus (Jean-Daniel Gerber)

Die Schweiz muss gegenüber der EU ihre Interessen verfolgen. Gleichzeitig muss sie aber auch darlegen können, wie sie sich ihre Rolle in einem zukünftigen Europa vorstellt.

Anfang Dezember 2022 publizierte der Bundesrat seine «Lagebeurteilung über die Beziehungen Schweiz – EU». Die Regierung gibt sich in ihrer Beurteilung vorsichtig optimistisch. Die EU respektiere den Schweizer Ansatz, bei der Personenfreizügigkeit Ausnahmen vorzusehen, und zeige Offenheit, diese Ausnahmen nicht der Auslegungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs zu unterstellen.

Den vollständigen Kommentar können Sie hier lesen.