Normalerweise halten selbst langjährige Journalisten keine Festreden. Umso mehr danke ich der Gemeinde Münsingen für die Einladung, an ihrer Bundesfeier die Festrede zu halten. Meistens werden dafür Gewählte ausersehen oder anders um die Gemeinde verdiente Bürgerinnen und Bürger. Jedenfalls keine Neo-Münsinger, die in grauer Vorzeit im Siedlungsbrei irgendwelcher Zürcher Aussenquartiere geboren und aufgewachsen sind.
Im Ernst, wir haben ganz allgemein aufgehört, in normalen Zeiten zu leben. Sehr ungewollt. Hier auf diesem Platz im alten Dorfkern, auf dem Schlossgutplatz, veranstaltet die Reformierte Kirchgemeinde Münsingen seit einiger Zeit jeden Samstag ein – ich zitiere – „Friedensgebet aus aktuellem Anlass“. Und es wissen alle sofort, was gemeint ist.
In normalen Zeiten gehört zu jedem 1.-August-Fest viel Unbeschwertheit. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs sind manche von uns nicht mehr so unbeschwert. Feiern aber dürfen wir den symbolischen Geburtstag unseres Landes immer. Sogar in einem solchen Jahr. In einem solchen Jahr sogar erst recht. Mit Blick auf die aktuelle Situation ist die Bundesfeier der richtige Anlass, sich auf bestimmte Fundamente des Landes zu besinnen.
Eigentlich nicht allein des Krieges wegen. Wir leben ganz generell in zunehmend gefahrvollen Zeiten. Die Krisen häufen sich seit Jahren, Stichworte Klima, Pandemie. Der Krieg belastet uns allerdings zusätzlich und nochmals anders. Schon ist unsere Energiesicherheit dahin. Was für die Klima-Wende wiederum Probleme schafft. So verstärken sich die Krisen auch noch gegenseitig. Grenzüberschreitend. Soviel zur Herausforderung, vor der wir stehen.
Was ist eine Krise? Streng genommen, laut Wörterbüchern, eine Entscheidungssituation, der Wende- oder Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung.
Eine einfachere Definition von Krise geht zurück auf einen italienischen Denker des 20. Jahrhunderts, Antonio Gramsci. In einer Krise, sagte er, ist das Alte nicht mehr da, aber das Neue hat noch nicht angefangen. Mit andern Worten: Eine Krise ist eine prekäre Zwischenzeit.
Mir scheint nun, die Schweiz ist Spezialistin für solch prekäre Zeiten. Das war sie von Geburt. Das ist ihre Staatsidee. Oder genauer: der praktische Kern ihrer Staatsidee. Egal, ob wir dabei an die Gründung des modernen Bundesstaats im 19. Jahrhundert denken. Oder sogar an die legendären Anfänge der alten Eidgenossenschaft im Mittelalter.
Der von Anfang August 1291 datierte Bundesbrief, nach traditioneller Lesart die Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft, verweist schon einleitend auf die Arglist der Zeit. Man sprach vordem auch von Interregnum, Zwischenherrschaft. Das Alte, die als rechtmässig anerkannte Herrschaft, war nicht mehr da, und die Zeit wurde arglistig – nach heutigem Sprachgebrauch krisenhaft. In einer solch prekären Situation entschlossen sich die Waldstätte zu ihrem Start-up, einem smarten Landfriedensbund mit grossem Potential – immer nach heutigem Sprachgebrauch.
Genauso entstand auch die moderne Schweiz. Ihr gelang inmitten des krisengeschüttelten 19. Jahrhunderts, im Revolutionsjahr 1848, als einzigem Land Europas die Gründung einer bis heute stabil gebliebenen Republik. Aussenpolitisch war der junge Bundesstaat sofort hochaktiv. Er setzte zwar die Neutralität fort, die die Grossmächte der alten Eidgenossenschaft am Wiener Kongress 1815 zuerkannt hatten. Die Väter der Bundesverfassung von 1848 verzichteten aber bewusst darauf, die Neutralität unter den Zwecken des Bundes anzuführen, weil man nie wissen könne, ob die Neutralität einmal im Interesse der Unabhängigkeit aufgegeben werden müsse.
Die erste Weltkrise, die den neuen Bundesstaat und seine Neutralität auf die Probe stellte, war der Krimkrieg von 1853 bis 1856. Russland kämpfte gegen seinen schwächeren Nachbarn am Schwarzen Meer, die Türkei. Die Westmächte Frankreich und England eilten der Türkei zur Hilfe und erklärten Russland den Krieg. Der Krimkrieg war der erste Krieg zwischen den Grossmächten, in dem die moderne Technik – zielgenaue Gewehre, elektrische Kommunikation – eine wesentliche Rolle spielte und den Stellungskrieg brachte. Er war eine Vorform des Ersten Weltkriegs.
Der Krimkrieg schockierte und elektrisierte die Weltöffentlichkeit. Viele Schweizerinnen und Schweizer ergriffen leidenschaftlich Partei für die Westmächte. Die Neue Zürcher Zeitung publizierte flammende Leitartikel: „Die ganze europäische Gesellschaft fühlt es, dass hier ein Krieg für und gegen die höchsten Güter der Civilisation geführt wird, ein Krieg gegen die Ursache aller Kriege, vielleicht der letzte Krieg. Es herrscht die Feierlichkeit eines Gottes- und Weltgerichts. (…) Die Siegessalven von London und Paris werden in den hintersten Schluchten von Glarus und Neuenburg wie auf den ersten Märkten der Welt einen freudigen Widerhall finden.“ Später schlug die NZZ sogar die Entsendung von 12 000 bis 16 000 Schweizer Soldaten zur militärischen Unterstützung der Westmächte vor.
So weit freilich gingen ansonsten Schweizer Presse und Bevölkerung bei aller Sympathie für den Westen auch wieder nicht. Die offizielle Schweiz blieb neutral, beteiligte sich also militärisch nicht selber am Konflikt. Der Bundesrat befürchtete Weiterungen des Krimkriegs bis nach Mittel- und Westeuropa. Auch über unvermutete Richtungsänderungen von Staaten unseres eigenen Umfelds. Deshalb erklärte er 1854 in grosser Sorge um die Schweiz, selbst die „feierlichsten Verträge“ über die Neutralität änderten nichts daran, dass „nur zu oft die Gewalt und nicht das Recht massgebend“ sei.
Diskret liess der Bundesrat zu, dass die auf der Krim kriegführenden Mächte in der Schweiz Söldner anwarben – die britische Schweizerlegion 3300 Mann, die französische Fremdenlegion 700 Mann. Ein Versuch von russischer Seite, in der Schweiz ebenfalls zu werben, schlug fehl. Bloss gelangten dann selbst auf englischer und französischer Seite die Schweizer Söldner nicht mehr auf den Kriegsschauplatz. Ehe es soweit war, wurde der Frieden geschlossen.
Der Krimkrieg war allen Staaten Europas, auch der Schweiz, eine Lehre. Er zeigte erstmals in der Moderne, dass ein begrenzter Krieg zwischen Grossmächten führbar war. Das änderte den Charakter der internationalen Diplomatie. Zuvor hatte sie sich um Friedenswahrung bemüht. Nach dem Krimkrieg diente sie neuer Kriegsvorbereitung.
Die Schweiz musste lernen, sich daraus herauszuhalten. Ohne deshalb unfähig zu werden, mit dem Ausland zusammenzuwirken. Sie verbot die ihr unwürdigen Solddienste. Sie führte, spät genug, ein modernes Bundesheer ein, das mit den kriegstechnischen Entwicklungen des Auslandes Schritt hielt.
Und sie begann, ihren aussen- und sicherheitspolitischen Manövrierraum immer besser auszunützen. An Druckversuchen des Auslands fehlte es nicht. Unentwegt manövrierend, wich sie ihnen aus, widerstand ihnen oder gab ihnen nach, je nach Konflikt. Ihre Neutralität passte sie situativ ihrer Realpolitik an. Mal war sie flexibler neutral, mal strenger. Und so hat sie auch alle Weltkrisen und Weltkriege intakt überstanden, anders als alle andern Länder des Kontinents. Dies bis an die Schwelle des Atomzeitalters. Seitdem profitiert sie von ihrer geostrategischen Lage, ihrem europäischen Umfeld mit seinem amerikanischen Schutzschirm.
Am 24. Februar sind wir in einem anderen Europa aufgewacht: Eine Grossmacht ist zu Angriffskrieg und Einsatz atomarer Waffen bereit. Sie will die europäische Friedensordnung radikal ändern, die in der Charta von Paris 1990 von allen Staaten der damaligen KSZE einschliesslich Sowjetunion und Schweiz unterschrieben worden ist. Das ändert alles, auch für unser Land.
Plötzlich sind die klaren Worte des Bundesrates von 1854 über die Verwundbarkeit des Neutralen trotz feierlichsten Verträgen für uns heute von bestürzender Aktualität. Wie damals sind Weiterungen des Kriegs bis nach Mittel- und Westeuropa möglich. Etwa über unvermutete Richtungsänderungen von Staaten unseres eigenen Umfelds. Man weiss wirklich nie.
Nicht von ungefähr hat sich unsere Bundespolitik mit Hochdruck daran gemacht, die Neutralität wieder einmal situativ anzupassen. Dies nachdem sich der Bundesrat den EU-Sanktionen gegen Russland angeschlossen hat. Noch wird die breite Grundsatzdiskussion erst vorbereitet. Es gibt für die Zukunft der Neutralität mehrere Optionen. Entscheiden werden Bundesrat und Parlament, am Ende Volk und Stände. Doch wird über die Medien alles schon zum Entweder-Oder zugespitzt: Mehr kooperative oder wieder integrale Neutralität? Konkreter: Soll die Schweiz mit der Nato enger als bisher zusammenarbeiten oder am liebsten gar nicht mehr?
Die Verengung der Diskussion auf diese beiden Optionen halte ich für reichlich verfrüht. Zumal beide, scheint mir, auf einer Annahme beruhen, die seit 24. Februar überholt ist. Der Annahme, die Schweiz könne von effektiver Achtung des Völkerrechts, wie des Neutralitätsrechts, ausgehen. Wir haben es jetzt in Europa mit einer Atommacht zu tun, die sich um Rechte von Drittstaaten, vorab solcher ohne garantierten Schutzschirm, nicht mehr schert.
Nein, mit andern Neutralen ist die Schweiz nicht gut vergleichbar. Auch nicht mit Finnland oder Schweden, die nach dem 24. Februar nicht lange gefackelt haben. Beide entschlossen sich unverzüglich zu Nato-Beitritt und Verzicht auf die Neutralität. Sie benötigen den garantierten Schutzschirm besonders dringend.
Noch ist die Schweiz weniger exponiert. Sie ist in einer weniger gefährlichen geostrategischen Lage als die nordischen Neutralen. Sie hat mehr Bedenkzeit. Hoffentlich nutzt sie sie auch richtig. Prüft also Optionen, die das seit 24. Februar bestehende Problem adressieren. Mit Vorteil solche, die den Manövrierraum der Schweiz im Notfall nicht verkleinern, sondern vergrössern. Konkret etwa die Option, auf die Dauerhaftigkeit der Neutralität zu verzichten. Fachleute nennen sie Ad-hoc-Neutralität. Mit ihr wäre die Schweiz grundsätzlich neutral, könnte aber je nach Konflikt auch darauf verzichten, falls sie das für ihre Sicherheit als nötig erachtet.
Dann hätte sie den Manövrierraum, den sie gerade in Zeiten wie den unsrigen benötigt. Einer neuen Zeit gehäufter Krisen, Kriege, modernisierter Barbarei. Siegleicht langsam jener, die mit dem Krimkrieg begann und in zwei Weltkriegen gipfelte.
Die These, die ich am Anfang meiner Rede aufgestellt habe, war: In arglistigsten Zeiten bewährt sich die Überlebens- und Problemlösungskompetenz der Schweiz am besten. Jetzt sahen wir: Wichtig dafür ist der Manövrierraum, jene Handlungsfreiheit, von der die Schweiz auch Gebrauch machen kann und will. Die schönste Frucht all dessen in der Moderne aber war und ist, neben der Unversehrtheit des eigenen Landes, das Rote Kreuz.
Der Genfer Bürger Henry Dunant hatte die Grauen modernisierter Kriegsbarbarei in den 1850er Jahren durch Zufall auf Reisen mit eigenen Augen gesehen, nicht auf der Krim, dafür in Norditalien. Seitdem wusste er, was er zu tun hatte. Und die Schweiz verhalf seinem grossen Gedanken auf diplomatischem Parkett in Genf zum Durchbruch. Bis auf den heutigen Tag beweist das Rote Kreuz weltweit exemplarische Handlungsfähigkeit in prekärsten Situationen.
Unsere Demokratie ist ein Staatswesen, das sich an übermächtigen Aufgaben erst ganz entfaltet. Manchmal ist sie merkwürdig. Sie ist einer der am solidesten gebauten Staaten der Welt. Sie traut sich aber oft selber nichts zu. Die Schweiz ist unzerstörbar, ausser sie zerstört sich selbst. Durch Verzagtheit.
Feiern wir unseren 1. August also vor allem: unverzagt – und mit viel Zuversicht.
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Beim originalen Beitrag handelt es sich um die vom Autor gehaltene Festrede an der Bundesfeier in Münsingen 2022.