Marino Baldi: Rahmenabkommen – zum «Lohnschutz» aus praktischer Verhandlungssicht

Von den drei in der Verhandlung noch offenen ­– aus Schweizer Sicht präzisierungsbedürftigen ­– Fragen müsste jene des Lohnschutzes ohne Konzessionen seitens der EU lösbar sein.

 

Während langer Zeit wurde glauben gemacht, es bestünden beim Lohnschutz namhafte sachliche Differenzen. Zwar hat man in der Schweiz schon seit längerem argumentiert, neben der Höhe des Schutzes an sich gehe es auch um dessen praktische Handhabung. Diese müsse unbedingt den Gewerkschaften überlassen bleiben. Fiele die Anwendung des Schutzes unter die – auch nur indirekte ­– Jurisdiktion des EUGH (via Vorabentscheidung), so bestünde die Gefahr, dass er mit der Zeit schwinde.

Hinzu kam in materieller Hinsicht oft auch ein Restzweifel im Sinne der Frage, ob der EU-Schutz als solcher wirklich so solid sei, wie er von der Schweiz gewünscht werde. Gespräche in den letzten Wochen mit in der Sache kundigen Personen – so insbesondere mit der Freiburger Rechtsprofessorin Astrid Epiney – konnten m.E. alle Zweifel ausräumen, dass der Lohnschutz, wie er in der seit einigen Jahren geltenden Richtlinie der EU (Entsenderichtlinie 2018) definiert ist, dem Schweizer Standard nicht genügt. Das von der Schweiz geltend gemachte Problem beschränkt sich somit auf die angeblichen Unvorhersehbarkeiten der Rechtsprechung des EUGH.

Ist dieser Unsicherheitsfaktor real? Hierzu Folgendes: Der EuGH interpretiert in seinen Vorabscheidungen den Binnenmarkt nicht spezifisch bezüglich des Verhältnisses Schweiz/EU, sondern grundsätzlich für die ganze EU/EFTA, d.h. für dreissig Staaten auch in ihrem Verhältnis zueinander. Parteiische Rechtsprechung ist damit höchst unwahrscheinlich. Bei Streitigkeiten zwischen der Schweiz und der EU ist der EuGH gerade nicht das Gericht der Gegenpartei, wie oft argumentiert wird. Zu beachten ist sodann, dass in einer Anzahl von EU-Mitgliedstaaten gewerkschaftliche Anliegen generell höher gewichtet werden als in der Schweiz.

 

Fazit: Beim Lohnschutz betreffen die Meinungsunterschiede nicht wirklich Substanzfragen, sondern die Methode des Schutzes. Bei der Unionsbürgerschaft hingegen harren echte Substanzprobleme einer Lösung (die Frage der Beihilfen scheint de facto gelöst). Es wäre unter diesen Umständen verhandlungsstrategisch ungeschickt, die Lohnschutz-Frage zur Pièce de Résistance der ganzen Verhandlung zu machen. Dieser Fokus muss den Problemen um die Unionsbürgerrichtlinie (UBRL) gelten. Überzeugende Lösungen sind hier für breite Bevölkerungsschichten wichtig. Somit müsste intern die Strategie in erster Linie dem Bemühen gelten, SP-Politiker, die das aktuelle Lohnschutz-System verteidigen, von der Güte der EU-Regelung zu überzeugen. Wenn einmal die Lohnschutzfrage, die wegen ihrer Bedeutung für die Nachbarstaaten der Schweiz seit langem viel zu reden gibt, mit der Union zufriedenstellend gelöst ist, dürften beim Dossier UBRL Konzessionen der EU eher erhältlich sein.

Diese Überlegungen gründen auf der Annahme, dass die offizielle Schweiz wirklich ein Abkommen anstrebt. Dies ist zumindest nicht offensichtlich. Auch spielen nicht alle Akteure mit offenen Karten. So ist leicht zu erkennen, dass Argumente wie die ‘fremden Richter’ oft herhalten müssen, um (scheinbar) wenig achtenswerte Motive der Abkommensbekämpfung zu kaschieren, wie etwa die Abneigung gegen griffigere Finanzmarktregeln.

Thomas Cottier und Daniel Woker: „Kurze Argumente für die Befürworter des InstA“

In der Debatte rund um das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU kommt es immer wieder zu falschen Annahmen und Äusserungen. Um diesen Falschaussagen entgegenzuwirken haben Thomas Cottier und Daniel Woker mehrere kurze Argumente für die Befürworter des Rahmenabkommens erstellt.

Die Kurzmitteilungen von Thomas Cottier sind >hier gesammelt.

Die Argumente von Daniel Woker können >hier eingesehen werden.

Christian Etter: „10 Falschaussagen zum Rahmenabkommen und ihre Richtigstellung“

In einem kurzen Argumentarium befasst sich Christian Etter mit den 10 häufigsten Missverständnissen rund um das Rahmenabkommen.
Das Rahmenabkommen garantiert der Schweiz nämlich einen privilegierten und massgeschneiderten Zugang zu ausgewählten Sektoren den EU-Binnenmarkts und die Möglichkeit eines Opting-Outs zu fairen Bedingungen.

Das komplette Argumentarium, welches laufend aktualisiert wird, können Sie >hier lesen.

Jean Zwahlen: „La Saga du Brexit – Quelques pistes de réflexion pour notre accord institutionnel“

Jean Zwahlen zum Brexit und welche Lehren die Schweiz für das Rahmenabkommen daraus ziehen kann: „Wir sollten verfolgen was in Großbritannien passiert und daraus lernen bevor wir unwiderrufliche Entscheidungen treffen, wohl wissend, dass wir weder die Grösse noch das Gewicht des Vereinigten Königreichs haben.“

Sie können den Artikel hier lesen.

Neueste Version des substantiellen InstA-Informationstextes

Der Referenz-Informationstext im Frage- und Antwortstil von Christa Tobler und Jacques Beglinger zu den laufenden Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über ein bilaterales Abkommen hat im Februar 2021 einige weitere Ergänzungen erhalten.
Die neueste Version des Dokuments findet sich stets auf der Webseite EUR-Charts zum freien Download.
Zur aktuellen Version: Tobler/Beglinger-Brevier zum Institutionellen Abkommen Schweiz-EU, Ausgabe 2021-02.1

Rahmenabkommen:  Antwort des Bundesrates auf die Petition PSE vom 31.10.19

Rahmenabkommen:  Antwort des Bundesrates auf die Petition PSE vom 31.10.19

Mit Schreiben vom 19. November 2019 hat Bundesrat Cassis die Petition beantwortet und das beschlossene Vorgehen des Bundesrates bestätigt. Auf die Argumente der Petition geht er dabei nicht ein. Das gilt sowohl für die rechtlichen wie die geopolitischen Überlegungen. Man muss daraus schliessen, dass sich der Bundesrat damit nicht näher befasst hat, wie das eigentlich Ziel und Zweck des Petitionsrechts nach Art. 33 BV ist. Ein Diskurs und eine Debatte kann so nicht entstehen.

Einmal mehr bestätigt sich, dass die Regierung in der Schweiz nur referendumsfähige Kräfte wirklich ernst nimmt. Das trifft für die Organisationen der PSE offensichtlich nicht zu. Denn wir bremsen nicht, sondern möchten mit guten Gründen endlich vorwärts machen. Vielleicht ist das mit auch eine Erklärung, weshalb die Schweiz in der Europapolitik den Zug verpasst hat.

Thomas Cottier

Präsident der ASE und Vorstandsmitglied der PSE

 

Lesen Sie die Petition:

Petition Deutsch

Petition Französisch

Petition Italienisch

PSE Petition zum Rahmenabkommen eingereicht!

Die Plattform-Schweiz-Europa hat heute ihre Petition zum Rahmenabkommen eingereicht.

In dieser Sache traten zudem Thomas Cottier, Präsident der Vereinigung Die Schweiz in Europa (ASE) und Initiant der Petition zusammen mit Jean-Daniel Gerber, Co-Präsident der PSE, Joëlle de Sépibus, Vize-Präsidentin ASE, und Raphaël Bez, Co-Generalsekretär der Nebs, heute vor die Medien und präsentierten die Petition. Die PSE will mit der Petition die Wichtigkeit der Unterzeichnung des Vertragswerks erneut unterstreichen. Es gibt keinen sachlichen Grund mit der Unterzeichnung zuzuwarten, auch nicht für Klärungen der drei umstrittenen Punkte. Der Bundesrat muss diese Verantwortung übernehmen. Die gegenwärtige Lage verursacht eine grosse Verunsicherung, die sich auf das Investitionsverhalten der Wirtschaft und damit die Arbeitsplätze in der Schweiz negativ auswirkt.

Lesen Sie die Petition:

Petition Deutsch

Petition Französisch

Petition Italienisch

Konsultationspapier zum institutionellen Rahmenabkommen

Die Plattform-Schweiz-Europa (PSE) fordert den Bundesrat auf, seine Führungsverantwortung wahrzunehmen und das institutionelle Rahmenabkommen (InstA) zu unterzeichnen. Das InstA fördert die ordentlichen Beziehungen zur EU und ihrer Mitgliedstaaten. Die PSE ist der Auffassung, dass den Interessen der Schweiz souveränitäts- und wirtschaftspolitisch besser gedient ist als ohne InstA. Wesentliche schweizerische Begehren sind im Abkommen erfüllt:

  1. Begrenzter Geltungsbereich des InstA
  2. Keine automatische Rechtsübernahme
  3. Angemessene Streitbeilegungsmechanismen
  4. Anerkennung von schweizerischen Spezifitäten
  5. Keine supranationale Überwachungsbehörde
  6. Keine Übernahme der Richtlinie zur Unionsbürgerschaft
  7. Gewährleistung von Rechtssicherheit
  8.  Möglichkeit zum Abschluss neuer Verträge

Zu 1: Begrenzter Geltungsbereich:

Die Anwendung des InstA ist auf fünf bestehende Abkommen beschränkt, nämlich jene, die vollständig oder teilweise eine Teilnahme am Binnenmarkt vorsehen. Wer garantierten Zugang zum EU-Binnenmarkt will, muss auch dessen Regeln übernehmen.

Zu 2: Keine automatische Rechtsübernahme:

Das Abkommen verpflichtet die Schweiz für diese fünf Abkommen zu einer dynamischen Übernahme von EU-Recht. Die Schweiz erhält dafür:

  • Ein systematisches Mitspracherecht (decision shaping) und das Recht auf Teilnahme in Arbeitsgruppen zur Umsetzung von EU-Recht (Komitologie)
  • Die Respektierung der direkten demokratischen Verfahren bei der Anpassung der Gesetze, inkl. der Möglichkeit des Referendums
  • Bei Ablehnung der Anpassung besteht die Möglichkeit des Opt-Out unter Inkaufnahme von Ausgleichsmassnahmen mit Schiedsverfahren. Somit keine automatische Rechtsübernahme.

Zu 3: Angemessene Streitbeilegungsmechanismen:

Im Gegensatz zur gegenwärtigen Rechtslage, die den EU-Behörden erlaubt, einseitig gegen die Schweiz gerichtete Massnahmen zu beschliessen, sieht das InstA ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht vor. Der Europäische Gerichtshof wird einzig konsultiert, wenn zur Schlichtung einer Streitigkeit die Auslegung von genuinem EU-Recht erforderlich ist. Hält sich die Schweiz bzw. die EU nicht an das Schiedsurteil, können nur proportionale Ausgleichsmassnahmen getroffen werden, was im Vergleich zu den gegenwärtigen bilateralen Abkommen ein wesentlicher Vorteil darstellt.

Zu 4: Anerkennung von schweizerischen Spezifitäten:

In den geltenden bilateralen Abkommen werden die schweizerischen Besonderheiten, wenn überhaupt, nur auf Zusehen hin anerkannt. Das InstA enthält verbindliche Sonderbestimmungen, die nur für die Schweiz gelten, so u.a.

  • Vertragliche Sicherung der flankierenden Massnahmen, namentlich des Lohnschutzniveaus
  • Eine Voranmeldepflicht für ausländische Anbieter von Dienstleistungen von vier Arbeitstagen auf der Basis von branchenspezifischen Risikoanalysen
  • Eine Kautionspflicht bei Akteuren, die finanziellen Verpflichtungen wiederholt nicht nachgekommen sind
  • Eine Dokumentationspflicht für selbständig Erwerbende
  • Die Beibehaltung des Nacht- und Sonntagfahrverbots für Lastwagen
  • Keine generelle Regelung für die staatlichen Beihilfen. Diese sollen in den sektoriellen Abkommen geregelt werden

Zu 5: Keine supranationale Überwachung:

Die Schweiz hat supranationale Überwachungsorgane im Rahmen des InstA abgelehnt. Diesem Begehren wurde mit dem Zweipfeilermodell entsprochen, indem die Einhaltung der Abkommen durch zwei eigenständige Institutionen mit äquivalenten Kompetenzen überwacht wird. Sollten Probleme auftreten, werden diese zunächst im Gemischten Ausschuss diskutiert und im Fall, dass keine Einigung erzielt wird, kann das Schiedsgericht angerufen werden, was wiederum vor arbiträren Gegenmassnahmen schützt. Dass unsere Wirtschaftsakteure nur durch schweizerische Behörden überwacht werden, kann auch gegenüber dem EWR mit seiner supranationalen EFTA Surveillance Authority (ESA) als Vorteil angesehen werden.

Zu 6: Ausklammerung der Unionsbürgerschaft:

Die Frage der Anwendung der Richtlinie wird durch das InstA nicht präjudiziert und wird auch ohne InstA Gegenstand längerer Verhandlungen sein. Die Schweiz kann durch die Opt-Out Möglichkeiten nicht zur integralen Übernahme gezwungen werden. Allfällige Ausgleichsmassnahmen der EU unterliegen der alleinigen Beurteilung durch das Schiedsgericht. Ohne InstA und unter der heutigen Rechtslage kann die EU einseitig Retorsionsmassnahmen im Rahmen des Freizügigkeitsabkommens einsetzen.

Zu 7: Das InstA gewährt Rechtssicherheit:

Mit dem InstA wird die Parallelität der Rechtslage zwischen der Schweiz und der EU gewährlistet, während die gegenwärtige Situation für die Schweiz prekär ist. Z.B. ist die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen für Industrieprodukte nicht gesichert. Das Gleiche gilt für die Börsenäquivalenz. Die zukünftige Beteiligung an den EU-Forschungsprogrammen (Horizon) und der Austausch von Studenten (Erasmus) sind ungewiss.

Zu 8: Das InstA ermöglicht neue Verhandlungen:

Nur im Falle des Abschlusses eines InstA können neue Marktzugangsabkommen mit der EU abgeschlossen werden; im Vordergrund stehen das bereits seit einiger Zeit in Verhandlungen stehende Abkommen zum Strommarkt sowie ein Dienstleistungsabkommen, insbesondere im Bereich der Finanzdienstleistungen.

Zusammenfassung und Schlussfolgerung

Die Schweiz muss die Möglichkeit haben, ihre Interessen in der EU effizient und effektiv vertreten zu können. Als eines der am meisten integrierten Länder im Binnenmarkt der EU hat sie ein eminentes Interesse an der Weiterführung und am Ausbau des bilateralen Wegs. Dieser Weg ist ohne InstA in höchstem Mass gefährdet. Das InstA stärkt den Einfluss der Schweiz auf das Geschehen innerhalb der EU, indem es ihr ein Recht auf Mitsprache bei der Rechtsentwicklung einräumt. Der paritätische Streitbeilegungsmechanismus gewährt ihr Rechtssicherheit und schützt sie vor arbiträren Massnahmen.

Die PSE ruft daher den Bundesrat auf, das InstA zu unterzeichnen und den parlamentarischen Prozess einzuleiten. Parlament und allenfalls das Schweizer Volk müssen über dieses Vertragswerk demokratisch entscheiden können. Die PSE ist davon überzeugt, dass sich der Bundesrat bewusst ist, dass er im Fall der Nicht-Unterzeichnung des InstA die Verantwortung  für allfällige diskriminatorische Massnahmen vonseiten der EU trägt. Sollte der Bundesrat das InstA nur mit Vorbehalten unterstützen, bitten wir ihn, die PSE in die mit der EU geführten Gespräche und in den in der Schweiz initiierten Konsultationsprozess  mit einzubeziehen.