«Die Grosskonzerne interessieren sich nicht für die Unabhängigkeit der Schweiz»
Dieser Artikel erschien am 16.09.2024 bei Schweizer Monat. Weiterlesen
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Die Sicht eines politisch interessierten Bürgers.
Im Zusammenhang mit der Neutralitätsdebatte wird oft auf das HAAGER Abkommen betreffend «Rechte und Pflichten neutraler Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges» verwiesen. Es ist eines von 13 Abkommen der HAAGER Friedenskonferenz von 1907. Dieses zwischenzeitlich 117 Jahre alte HAAGER Abkommen wurde noch zu Kaiser-, Königs- und Zaren- Zeiten erstellt, als es noch keine Panzer, Raketen, Flugzeuge etc. gab, geschweige denn Satelliten und Atombomben.
Was beinhaltet das HAAGER Abkommen?
Das HAAGER Abkommen unterscheidet zwischen Rechten und Pflichten neutraler Staaten im Falle eines Landkrieges. Der Konflikt vor dem Krieg ist somit nicht berücksichtigt. Die im HAAGER Abkommen aufgeführten Rechte, im Wesentlichen die «Unverletzlichkeit des Gebietes neutraler Staaten», wurden im Jahr 1945 von der UN- Charta substituiert, die von 193 Staaten unterzeichnet wurde, von der Schweiz aber erst im Jahr 2002. Die aufgeführten Pflichten neutraler Staaten sind hingegen in der UN- Charta nicht geregelt. Unter Plichten fordert das HAAGER Abkommen im Wesentlichen die «Gleichbehandlung von Kriegsführenden bei der Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial durch ein neutrales Land». Die Entsendung von Truppen in fremde Kriege wird nicht thematisiert.
Die Unverletzlichkeit des Gebietes neutraler Staaten und Gleichbehandlung von kriegsführenden Mächten sind also im HAAGER Abkommen verknüpft miteinander. Wenn eine kriegführende Macht gegen das Recht der Unverletzlichkeit des Gebietes eines neutralen Staates verstösst, so versteht es sich, dass der neutrale Staat nicht mehr an die Pflicht der Gleichbehandlung der kriegführenden Macht gebunden ist, d.h. die Neutralität wird hinfällig. Andererseits, wenn der neutrale Staat gegen die Pflicht der Gleichbehandlung einer kriegführenden Macht verstösst, so könnte dies eine kriegführende Macht zum Anlass nehmen, gegen das Recht der Unverletzlichkeit des Gebietes des neutralen Staates zu verstossen. Aber dieses Risiko haben alle Staaten, unabhängig davon, ob neutral oder nicht neutral.
Mit der Substitution der Rechte des HAAGER Abkommens durch die UN- Charta beschränkt sich die Bedeutung des HAAGER Abkommens auf die Pflichten neutraler Staaten. Trotzdem wird das HAAGER Abkommen von Bundesbehörden und Bundespolitikern salopp als Neutralitätsrecht bezeichnet. Ein international anerkanntes Neutralitätsrecht gibt es aber nicht.
Wurden die Rechte neutraler Staaten gemäss HAAGER Abkommen im 2.Weltkrieg respektiert?
Insbesondere im 2.Weltkrieg wurde die Wirksamkeit des HAAGER Abkommens auf die Probe gestellt. Da hat sich gezeigt, dass Aggressoren keine Rücksicht auf die territoriale Unversehrtheit eines Staates nehmen, unabhängig davon, ob neutral oder nicht neutral. Das mussten neutrale Staaten wie Belgien, Holland, Dänemark, Norwegen und Finnland im 2.Weltkrieg schmerzlich erfahren, weil sie das Pech hatten, auf den Kriegsachsen von Berlin nach Frankreich, Grossbritannien und Russland zu liegen. Das Deutsche Reich hat somit im 2.Weltkrieg mit der Besetzung von neutralen Staaten gegen die Rechte des HAAGER Abkommens verstossen. Heute wäre dies ein Verstoss gegen die UN- Charta. Die neutrale Schweiz wie auch Schweden wurden von Kriegshandlungen weitgehend verschont, obschon mitten im Kriegsgeschehen. Auf die Frage, wieso die Schweiz vom 2.Weltkrieg verschont wurde haben viele Schweizer/innen eine schnelle Antwort: Weil die Schweiz neutral und wehrhaft war. Aber stimmt das?
Haben neutrale Staaten im 2.Weltkrieg gegen die Pflichten des HAAGER Abkommens verstossen?
Schweden diente insbesondere als Lieferant von Erzen für die Stahlindustrie des Deutschen Reiches und die Schweiz als Waffenlieferant und Aufbewahrungsort von geraubtem Gold aus Nationalbanken der eroberten Staaten durch das Hitler- Regime. Aber mit Gold konnten keine Rechnungen für die Lieferung von Erzen oder Waffen etc. beglichen werden und die hochinflationäre Deutsche Reichsmark wollte niemand als Zahlungsmittel. Also musste das Gold des Hitler Regimes in Schweizer Franken umgewandelt werden, damals der einzigen konvertierbaren Währung von Europa. Die Schweiz diente quasi als Geschäftsbank des Deutschen Reiches.
Und beide Länder ermöglichten die Durchfuhr von Kriegsmaterial des deutschen Reiches. Die Schweden für den Transport von Kriegsmaterial in die von der deutschen Wehrmacht besetzten Länder Norwegen und Finnland, die Schweiz für Transporte zwischen den Achsenmächten Deutschland und Italien. Während sich die Schweizer Armee ins Alpen- Reduit zurückzog, quasi kapitulierte, und auf den deutschen oder italienischen Feind wartete, rollte Kriegsmaterial der Achsenmächte Deutschland und Italien durch den Gotthard- Tunnel. Es gab für Hitler und Mussolini schlichtweg keinen Grund, die Schweiz zu erobern. Und General Guisan verbot bereits Anfang des Krieges den Abschuss von deutschen Transport- und Kampfflugzeugen über Schweizer Territorium, am Ende des Krieges wurden aber verirrte Bomber der Alliierten abgeschossen.
Mit diesen einseitigen Handlungen wurden die Achsenmächte Deutschland und Italien bevorteilt. Sowohl die Schweiz wie Schweden haben somit im 2.Weltkrieg gegen die Pflicht der Gleichbehandlung von Kriegsführenden in Bezug auf Ausfuhr und Durchfuhr von Kriegsmaterial gemäss HAAGER Abkommen verstossen. Geahndet wurden diese Verstösse nicht.
Sowohl Schweden wie die Schweiz mussten im 2.Weltkrieg vor der deutschen Übermacht kuschen. Dadurch konnte grosser Schaden abgewendet werden. Ein solches Verhalten ist nicht verwerflich. Es ist aber abwegig zu behaupten, dass die Schweiz Dank ihrer Neutralität vom 2.Weltkrieg verschont wurde. Das ist eine brandgefährliche Aussage, denn der neutrale Staat kann sich in falscher Sicherheit wägen. Im Gegenteil, die Schweiz wurde verschont, weil sie ihre Pflicht der Gleichbehandlung vom Kriegsführenden gezwungenermassen aufgeben musste, also nicht neutral sein konnte. Eine Gleichbehandlung von Kriegsführenden im Falle eines Krieges ist schlichtweg nicht möglich. Ebenso abwegig ist die Behauptung, dass die Schweiz wegen ihrer Wehrbereitschaft vom 2.Weltkrieg verschont wurde. Der Wille war zwar da, aber die Waffen fehlten. Das hat auch General Guisan Anfang des Krieges erkannt, und den Rückzug der Armee ins Alpen-Reduit befohlen.
Neutralitätspolitik des Bundes
Nichts desto trotz basiert die Neutralitätspolitik der Schweiz heute noch weitgehend auf dem HAAGER Abkommen mit der Pflicht der Gleichbehandlung von Kriegsführenden. Kein diesbezügliches Dokument des Bundes ohne den Hinweis auf das HAAGER Abkommen. Bund und Politiker, insbesondere Neutralisten, klammern sich an dieses 117 Jahre alte HAAGER Abkommen. Politiker müssen sich ernsthaft fragen, ob das Schweizer Volk hinter einer Neutralität der Gleichbehandlung von Kriegsführenden steht. Das ist sehr zu bezweifeln. Gleichbehandlung von Kriegsführenden tönt zu stark nach Optimierung von Waffenexporten. Geschäfte machen mit beiden Kriegsparteien, dem Aggressor und dem Opfer. Das kann nicht die Basis sein für die Neutralität der Schweiz. Unter Neutralität versteht das Schweizer Volk die «Nicht-Einmischung in fremde Konflikte oder Kriege» und nicht die «Gleichmässige Einmischung in fremde Kriege» nach dem HAAGER Abkommen.
Die Schweiz braucht ein neues Leitbild für ihre Neutralität.
Die Schweiz beruft sich zwar auf Ihre Neutralität, aber niemand weiss so richtig was dies bedeutet. Sie ist nirgendwo definiert. In der Bundesverfassung von 1848 ist die Neutralität nicht einmal erwähnt. Die Eidgenossenschaft resp. Schweiz leistete während vier Jahrhunderten Söldnerdienste im Ausland, bis er 1859 verboten wurde. Von einer neutralen Schweiz zu reden bevor der staatlich organisierte Söldnerdienst verboten wurde ist ziemlich abwegig, denn Söldnerdienst ist nun mal nicht verträglich mit Neutralität. Erst bei der ersten
Teilrevision der Bundesverfassung im Jahr 1874 wurde der Begriff Neutralität in die Bundesverfassung aufgenommen, ohne zu spezifizieren, was darunter zu verstehen ist. Es wird lediglich festgehalten, dass der Bundesrat resp. die Bundesversammlung Massnahmen zur Wahrung der äusseren Sicherheit und der Unabhängigkeit und der Neutralität der Schweiz treffen kann. Und genau das will die SVP mit einer Neutralitäts- Initiative ändern.
Bevor über eine Neutralitätsinitiative abgestimmt wird, müsste aber klar sein, welche Neutralität die Schweiz will oder braucht. Und das kann nicht eine Neutralität der Gleichbehandlung von Aggressor und Opfer sein gemäss HAAGER Abkommen. Die Schweiz muss auch begreifen, dass Neutralität eines Staates kein Recht, sondern eine selbst auferlegte Pflicht ist. Natürlich hat jeder Staat ein Recht auf Neutralität. Aber mit der Erklärung der Neutralität verpflichtet sich ein Staat, sich nicht in fremde Konflikte oder Kriege einzumischen. Jeder Staat kann aber seine Neutralität so auslegen wie er will. Der neutrale Staat muss sich nicht von fremden Richtern vorschreiben lassen wie er seine Neutralität definiert und lebt, die Schweiz schon gar nicht.
Die Schweiz braucht ein neues Leitbild für Ihre Neutralität. Dieses Leitbild muss einfach und leicht verständlich sein. Und dabei gilt ein wichtiger Grundsatz: Sicherheit und Wohlfahrt geht vor Neutralität. Auf dieser Basis kann eine einfache Definition für Neutralität abgeleitet werden:
Neutralität eines Staates ist die selbst auferlegte Pflicht, sich nicht in fremde Konflikte oder Kriege einzumischen, ausser wenn seine eigene Sicherheit und Wohlfahrt bedroht ist.
Nach diesem Leitsatz müsste sich die Bundespolitik in Zukunft ausrichten, insbesondere in Bezug auf das Kriegsmaterialgesetz KMG. Neutralität muss flexibel gehandhabt werden. Eine detaillierte Fixierung der Neutralität in der Bundesverfassung für alle Ewigkeit ist abwegig. Das will nicht heissen, dass die Schweiz den Neutralitätsstatus aufgeben muss. Aber die Aufrechterhaltung der Neutralität hat unter den heutigen geopolitischen Umständen mit den teuren und hochkomplexen Waffensystemen mit riesigem Zerstörungspotential ihre Grenzen. Die Schweiz muss ihre humanitäre Rolle pflegen und sich in Konflikten oder Kriegen als Vermittler engagieren. Aber grosse Konflikte oder Kriege besiegeln können nur Grossmächte.
1.August 2024 Daniel Seiler, Autor vom Amazon E- Book «NEUTRALITÄT – Fluch oder Segen?»
Präzedenzfälle werden – und die Diskussion darüber hat bereits begonnen – eine Rolle spielen beim Entscheid, ob die Bilateralen III dem fakultativen oder obligatorischen Referendum unterstellt werden. Der Entscheid ist nicht unwesentlich. Ob eine Mehrheit der Abstimmenden oder auch noch eine Mehrheit der Kantone dem Abkommen zustimmen müssen, kann in einer umstrittenen Materie entscheidend sein. Das Verhältnis zur EU gehört in diese Kategorie.
Als Präzedenzfälle werden vor allem die Abstimmungen zum EWR-Abkommen von 1992 und zum Freihandelsabkommen (FHA) mit der EWG von 1972 angeführt, die beide dem obligatorischen Referendum unterstellt wurden. Dieser Beitrag befasst sich mit dem Entscheid von 1972, der nicht nur weiter zurückliegt als die EWR-Abstimmung, sondern 50+ Jahre später auch schwieriger nachzuvollziehen ist. Aus heutiger Sicht kann man sich in der Tat fragen, was den Bundesrat und das Parlament damals bewogen hat, für ein reines Handelsabkommen, das keine zwingenden institutionellen Vorschriften enthält und im Vergleich zu heutigen FHA einen beschränkten Themenkreis umfasst, das obligatorische Referendum vorzusehen. Aber auch mit Sicht auf die damalige Zeit ist dieser Beschluss nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Das EFTA-Abkommen, welches als FHA ähnliche Verpflichtungen und Themenkreise umfasste wie das Abkommen mit der EWG, aber weitergehende institutionelle Konsequenzen hatte, trat für die Schweiz 1960 auf der Basis eines Parlamentsentscheids in Kraft. Weder ein fakultatives noch ein obligatorisches Referendum wurden als notwendig erachtet.
Auf der Basis von zeitgenössischen Unterlagen[1] wird hier versucht, einen Blick auf die 1972 massgeblichen Beweggründe zu werfen.
Zur Erinnerung: Der damals geltende Art. 89, Abs. 4, der Bundesverfassung sah ein fakultatives Staatsvertragsreferendum vor, das für «Staatsverträge mit dem Ausland, welche unbefristet oder für eine Dauer von mehr als 15 Jahren abgeschlossen sind», galt, wenn es von 30’000 Bürgern oder acht Kantonen verlangt wurde. Die Bestimmung ging auf eine Initiative aus dem Jahr 1913 zurück, die 1921 angenommen worden war. Interessant ist, dass sie im Ständerat nach einem Patt von 13:13 Stimmen nur dank eines Stichentscheids des Vorsitzenden eine Mehrheit gefunden hatte. Ein obligatorisches Referendum für Staatsverträge war jedoch 1972 in der Bundesverfassung nicht vorgesehen. Da das FHA mit der EWG eine Kündigungsklausel enthielt, fiel es auch nicht unter die zeitlichen Vorgaben von Art. 89 und damit nicht einmal unter die Verpflichtung für ein fakultatives Referendum.
Auch 1972 war der Entscheid, das FHA mit der EWG dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, sehr umstritten. Staatsrechtler wie die Professoren Dietrich Schindler und Hans Hofer, aber auch geachtete ehemalige Parlamentarier wie der frühere Ständerat Eduard Zellweger wandten sich vehement gegen den Entscheid. Dies nicht nur aus den oben erwähnten juristischen Gründen, sondern ebenso, weil sie befürchteten, dass mit dieser «politischen» Entscheidung eine Entwicklung eingeleitet werde, in der plebiszitäres Denken Vorrang gegenüber der Verfassung geniessen würde. Auch erinnerten sie den Bundesrat und die Parlamentarier an ihre Verantwortung: sie waren die nach der Verfassung zuständigen Instanzen für den Entscheid in solchen Fragen. Ohne Not diesen dem Stimmvolk zu übertragen hiesse demnach, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wie schon 1921 fielen diese Argumente auch 50 Jahre später im Ständerat auf offene Ohren. Er sprach sich in einer ersten Abstimmung gegen den Vorschlag des Bundesrats für ein obligatorisches Referendum aus. Erst nach einem Differenzbereinigungsverfahren schloss er sich dem Nationalrat an, der bereits zuvor bereit war, dem Bundesrat zu folgen.
Entscheidend waren somit die Haltung und die Argumente des Bundesrats. Um diese nachzuvollziehen – und auch deren Akzeptanz durch das Parlament zu verstehen –, ist ein Blick auf den damaligen Kontext notwendig. Obschon sich die Schweiz mit dem Beitritt zur EFTA 1960 für eine Freihandelszone entschieden hatte, bildeten das Verhältnis zur sich verfestigenden EWG und die Überwindung der Spaltung Westeuropas in zwei Gruppen während der 1960er Jahre wichtige Fragen der schweizerischen Aussenpolitik. Das Assoziationsgesuch von 1961, aber auch die Eröffnungserklärung des Bundesrates von 1970 zur Explorationsphase, welche in die Verhandlungen zum FHA mündete, beweisen, dass der Bundesrat sich für eine umfassendere Zusammenarbeit mit der EWG interessierte, als sie im FHA erreicht wurde. Es war von einer Mitwirkung «am weiteren Ausbau eines integrierten europäischen Marktes» (1961) und von der «Gestaltung besonderer Beziehungen« (1970) zur EWG die Rede. Auch die für die angestrebte Zusammenarbeit genannten Themen und Sachbereiche erinnern mehr an diejenigen des EWR-Abkommens als an das FHA. Aus heutiger Sicht erstaunen diese weitgehenden Absichten und Deklarationen, aber wie Bundesrat Schaffner 1963 festhielt: «Die Schweiz ist an einer gesamteuropäischen Integrationslösung interessiert».
Angesichts dieser Vorstellungen ist es nicht erstaunlich, dass immer wieder betont wurde, ein Abkommen müsse den Stimmbürgern vorgelegt werden, bevor es in Kraft treten könne. Dass daraus schliesslich ein pragmatischer, weitgehend auf Industrieprodukten basierender völkerrechtlicher Vertrag wurde, änderte diesbezüglich nichts an der Haltung des Bundesrates. Er beurteilte dieses Abkommen trotz seines reduzierten Inhalts als vorläufigen Abschluss einer Phase von Versuchen, die europäische Zusammenarbeit auf eine harmonisierte Basis zu stellen. Dies rechtfertigte die Beschlussfassung durch Stimmbürger und Stände, auch wenn, wie Bundesrat Brugger mit bemerkenswerter Offenheit vor den Räten meinte, der diesbezügliche Beschluss sei vielleicht etwas voreilig gefällt worden. Dieser Ansicht schloss sich auch der Nationalrat und, in einer 2. Lesung, der Ständerat an. Im Parlament wurde zudem die Befürchtung geäussert, eine Abkehr vom Versprechen des Bundesrats könne das Misstrauen der Stimmbürger wecken und die Abstimmung negativ beeinflussen. Die Stimmbürger und Kantone taten wie erhofft und hiessen das Abkommen am 3.Dezember 1972 mit einer Mehrheit von 72.5% und allen Standesstimmen gut.
Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Schilderung für die Abstimmung über die Bilateralen III ziehen? Wie ihre Kollegen 1972 sind sich die Staatsrechtler der «Groupe de réflexion» der P-S-E auf der Basis der vorliegenden Informationen einig, dass aufgrund der Verfassung keine Notwendigkeit besteht bzw. es dieser widerspricht, diese Abkommen Volk und Ständen zu unterbreiten. Im Vergleich zur oben geschilderten Situation, welche 1972 für den Entscheid von Bundesrat und Parlament entgegen den Bedenken der Staatsrechtler massgebend war, haben sich die Verhältnisse grundlegend geändert. Heute geht es nicht mehr um den Abschluss eines längeren integrationspolitischen Verfahrens, sondern um die Sicherung und Fortführung eines bereits eingeschlagenen, von den Stimmbürgern mehrere Male gutgeheissenen und exklusiv auf die Schweiz und die EU beschränkten bilateralen Wegs. Die Präzedenzwirkung der Abstimmung von 1972 kann somit mit guten Gründen in Zweifel gezogen werden. Auch der Bundesrat scheint vorsichtiger geworden zu sein und will sich, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, nicht im Voraus auf einen Entscheid festlegen, sondern erst, wenn das Verhandlungsergebnis vorliegt.
Hanspeter Tschäni
Dr. iur, ehem. Botschafter SECO
Juli 2024
[1] Artikel der NZZ und des Tages-Anzeiger aus dem Archiv meines Vaters, Hans Tschäni. Er hat sich damals als verantwortlicher Inlandredaktor beim zürcherischen Tages-Anzeiger intensiv mit dem Verhältnis der Schweiz zur EWG befasst. Für die hier geäusserte Darstellung trage ich jedoch die Verantwortung.
Wie ein Abkommen mit der EU aussehen wird, wissen wir noch nicht. Schon jetzt wird eifrig gestritten, ob ein solches Abkommen nur dem Volks- oder auch dem Ständemehr zu unterstellen sei. Eine renommierte Professorin für Staats- und Völkerrecht , die sich gegen die Notwendigkeit eines Kantonsmehrs aussprach, wurde in einer hässlichen Inseratenpolemik sogar als Landesverräterin bezeichnet. So weit ist die politische Kultur und die Bereitschaft zum offenen Diskurs bei einigen gediehen. Im Zusammenhang mit einem Gutachten des Bundesamtes für Justiz, das mit einer sachlich überzeugenden Argumentation ein ausserordentliches Ständemehr für das Abkommen mit der EU als unnötig ansah, wird jetzt wiederum polemisiert.
In der Verfassung fehlt eine Rechtsgrundlage für ein solches Erfordernis. Oberste Richtschnur muss aber die Bundesverfassung sein. Diese beschränkt das obligatorische Referendum in der Aussenpolitik aber in Art. 140 Abs. 1 lit. b auf den Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit (wie UNO und NATO) oder zu supranationalen Organisationen (wie die EU). Gewisse Staatsverträge wurden dem Ständemehr unterstellt, andere nicht. Dieser plebiszitären Willkür sollte ein Ende gesetzt werde. Nur bei völkerrechtlichen Staatsverträgen von klarem Verfassungsrang sollte ein zusätzliches Ständemehr zur Anwendung gelangen können. Das hat einen guten Grund, denn sonst könnte die Vertrauenswürdigkeit der Schweiz Schaden leiden.
In der Bundesverfassung fehlt eine Rechtsgrundlage für ein solches obligatorisches Staatsvertragsreferendum. Vor einige Jahren scheiterte ein Entwurf des Bundesrates im Nationalrat, wonach (alle) Staatsverträge mit verfassungsrechtlichem Charakter dem obligatorischen Referendum unterstellt worden wären. Somit ist diese Frage durch die Verfassung geregelt und nicht dem Parlament überlassen.
Obligatorische Staatsvertragsreferenda ausserhalb der Verfassung werden ausgeschlossen. Auch das hat einen guten Grund: Einem Missbrauch von Referendumsdrohungen für politisch-taktische Zwecke sollte ein Riegel geschoben werden. Denn dadurch würde die Vertrauenswürdigkeit der Schweiz Schaden leiden. Der Bundesrat sollte bei der Aufnahme von Verhandlungen mit anderen Staaten signalisieren können, ob ein Vertrag vom Parlament, vom Volk oder von Volk und Kantonen genehmigt werden muss. Dieser Entscheid sollte nicht dem Parlament überlassen werden.
Alt Ständeratspräsident René Rhinow und Prof. Georg Müller haben in der NZZ auf Grund der Verhandlungen im Parlament aufgezeigt, dass viele Parlamentsmitglieder und auch Bundesrat Koller bestrebt waren, zu verhindern, dass Verfassungsabstimmungen über Staatsverträge in rechtlich ungeordneter Weise erfolgen.
Walter Haller ist Prof. em. für Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht und Verfassungsvergleichung der Universität Zürich und Mitglied von UNSER RECHT.
I. Einleitung
1. Die Frage der Erforderlichkeit eines Ständemehrs für die anstehenden Verträge mit der Europäischen Union (Bilaterale III) ist umstritten. Das Bundesamt für Justiz hat in seinem Gutachten vom 27. Mai 2024 stringent und überzeugend dargelegt, dass in diesem Fall rechtlich die Voraussetzungen für die Unterstellung unter das Ständemehr nicht erfüllt sind. Der Bundesrat hat indessen das Gutachten lediglich zur Kenntnis genommen. Er behält sich die Unterstellung unter das obligatorische Referendum von Volk und Ständen anstelle der verfassungsrechtlich erforderlichen Unterstellung unter das einfache Referendum des Volkes als ein plebiszitäres Staatsvertragsreferendum sui generis weiterhin vor. Das Kriterium der Wichtigkeit wird immer wieder ins Feld geführt, obgleich es sich durch seine Unbestimmtheit für die Zuteilung von Entscheidungskompetenzen verfassungsrechtlich nicht eignet und 2021 zur Ablehnung einer Kodifizierung des angeblich gewohnheitsrechtlichen obligatorischen Referendums sui generis durch das Parlament geführt hat. Offen ist, wie die Mehrheit des Nationalrates und des Ständerates entscheiden wird.
2. Da keine Verfassungsgerichtsbarkeit in der Frage zur Verfügung steht, wird die Frage nach politischer Opportunität entschieden. PolitikerInnen werden daher auch die Auswirkungen auf ihre Wählerschaft und ihren Kanton berücksichtigen wollen. Das gleiche gilt auch für die Kantonsregierungen und die KdK, die politischen Parteien und Verbände in Bezug auf den Wirtschaftsstandort und die Betroffenheit der einzelnen Landesteile und Regionen.
3. Nicht beachtet wird auch seitens des BJ in den bisherigen Überlegungen die Rechts-lage aus der Sicht von Stimmbürgerinnen und Stimmbürger – und damit aus individualrechtlicher Sicht. Das Ständemehr führt dazu, dass die Stimmkraft der abgegebenen Stimmen in hohem Masse unterschiedlich behandelt wird. Im Folgenden wird geprüft, ob die dafür erforderlichen Voraussetzungen für die Vorlage der Bilateralen III erfüllt werden kann oder nicht. Da die Unterstellung unter das doppelte Referendum dieser Vorlage verfassungsrechtlich unklar ist, muss der Entscheid auch Auswirkungen auf die Stimmkraft der Bürgerinnen und Bürger und damit auch der einzelnen Kantone berücksichtigen. Das ist kein Angriff auf den Föderalismus, wie er in vielen Bereichen unbestritten verfassungsrechtlich zum Tragen kommt, sondern die Mitberücksichtigung der individualrechtlichen Seite des Problems.
II. Das Stimm- und Wahlrecht als Individualrecht
4. Art. 34 BV gewährleistet die politischen Rechte. Die Garantie gewährleistet in Abs. 2 ausdrücklich die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe. Art. 39 BV regelt die Zuständigkeit des Bundes zur Regelung der Ausübung der politischen Rechte.
5. Art. 8 BV gewährleistet die Rechtsgleichheit. Zur unverfälschten Stimmabgabe gehört grundlegend, dass alle Stimmen von gleichem Gewicht sind. Niemand kann hier grundsätzlich Vorrechte des Ortes oder des Geschlechts geniessen.
6. Art. 140 BV sieht das obligatorisch Referendum primär für Änderungen der Bundesverfassung vor. Das Erfordernis der Mehrheit der Standesstimmen geht historisch auf das Anliegen des Minderheitenschutzes bei der Übertragung von Kompetenzen der Kantone auf den Bund zurück. Die meisten Verfassungsänderungen bezogen sich auf solche Tatbestände und die Schaffung von neuen Bundesaufgaben, die den betreffenden Regelungsbereich den Kantonen grundsätzlich entzog. Hier, wie in der weiteren, späteren Ausdehnung des Ständemehrs auf supranationale Verträge und dringliche Vorlagen geht der Minderheitenschutz verfassungsrechtlich der Rechtsgleichheit vor.
7. Heute kommt die Ungleichbehandlung häufig vor, namentlich auch bei Abstimmungen über Volksinitiativen, ungeachtet dessen, ob sie mit neuen Aufgaben für den Bund verbunden sind oder lediglich bestehende Regelungen anpassen (wie z.B. bei der Konzernverantwortungsinitiative oder der Volksinitiative für eine 13. AHV Rente. Die bundesstaatliche Kompetenzordnung war hier nicht betroffen.
8. In all diesen Fällen führt das Ständemehr zu einer ungleichen Gewichtung der einzelnen Stimme nach Massgabe der Stimmberechtigten der einzelnen Kantone. Nach Massgabe der Stimmberechtigten der letzten Volksabstimmung vom 28.5.24 ergeben sich folgende Zahlen:
Volksabstimmung vom 28.5.2024 «Für ein besseres Leben im Alter» (Initiative für eine 13. AHV Rente)
Kanton | Stimmberechtigte | Stimmkraft pro Person
(Glarus = 1) bei erforderli-chem Ständemehr ( pro Kan-ton 1, Halbkantone 1/2) |
Zürich | 968’595 | 0.028 |
Bern | 747’589 | 0.036 |
Luzern | 285’958 | 0.094 |
Uri | 27’053 | 0.993 |
Schwyz | 108.075 | 0.248 |
Obwalden ((1/2) | 27’633 | 0.486 |
Nidwalden (1/2) | 32’022 | 0.419 |
Glarus | 26’877 | 1 |
Zug | 78’825 | 0.340 |
Freiburg | 215’906 | 0.125 |
Solothurn | 183’296 | 0.146 |
Basel-Stadt (1/2) | 113’922 | 0.018 |
Basel-Land (1/2) | 191’091 | 0.070 |
Schaffhausen | 53’995 | 0.497 |
Appenzell A.-Rh (1/2) | 39’225 | 0.342 |
Appenzell I.-Rh (1/2) | 12’249 | 1.097 |
St. Gallen | 331’512 | 0.081 |
Graubünden | 142’195 | 0.189 |
Aargau | 443’581 | 0.060 |
Thurgau | 179’814 | 0.149 |
Tessin | 225’377 | 0.119 |
Waadt | 475’731 | 0.056 |
Wallis | 233’798 | 0.115 |
Neuenburg | 114’148 | 0.235 |
Genf | 278’541 | 0.096 |
Jura | 54’438 | 0.493 |
Schweiz | 5’591’446 |
9. Die Ungleichbehandlung ist massiv. Nimmt man den kleinsten Vollkanton (Glarus) zu Stimmkraft N 1, so beträgt die einzelne Stimme in Zürich, dem grössten Kanton, lediglich N 0.028 unter Annahme einer vollen Stimmbeteiligung. Die stärkste Stimmkraft kommt Appenzell I.-Rh mit N 1.079 pro Stimme zu. Die Differenz zum Kanton Zürich beträgt nach diesen Zahlen 39.5 (unter Berücksichtigung als Halbkanton). Eine Zürcher Stimme hat entsprechend 39.5 mal weniger Gewicht als eine Stimme aus Appenzell I.-Rh.
10. Es ist offensichtlich, dass dies eine Einschränkung des Stimmrechts aller BürgerInnen der Kantone mit Ausnahme von Glarus gleichkommt, und zudem einer besonderen Privilegierung der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger von Appenzell I.-Rh. Die Einschrän-kung variiert nach Grösse der Kantone, stellt klarerweise die StimmbürgerInnen aus grossen Kantonen massiv schlechter als die StimmbürgerInnen kleiner Kantone. Die Stimmkraft einer grossen Mehrheit wird gegenüber dem einfachen Referendum und Volksmehr verzerrt und verfälscht. Das verstösst gegen Art. 34 Abs. 2 BV. Das verstösst gegen Art. 34 Abs. 2 BV.
11. Die Ungleichbehandlung der Stimmkraft ist nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch rechtlich relevant. Denn sie verstösst gegen Art. 34 Abs. 2 BV und bedarf daher einer besonderen Rechtfertigung.
12. Art. 36 BV regelt die Voraussetzungen für die Einschränkung von Grundrechten, zu den auch die politischen Rechte als verfassungsmässiges Recht gehören. Erforderlich ist eine gesetzliche Grundlage, genauer gesagt einer rechtlichen Grundlage, die hier verfas-sungsrechtlich nach Massgabe der Bestimmungen von Art. 140 BV erfüllt ist. Es bedarf sodann des öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit.
13. Die Schwere der Einschränkung ist bei der Auslegung von Art. 140 BV und der Frage des Behördenreferendums sui generis für Staatsverträge über den Wortlaut von Art. 140 BV hinaus zu berücksichtigen. Aus individualrechtlicher Sicht ist klar, dass hierfür eine gewohnheitsrechtliche Grundlage nachgewiesen werden können muss. Das Bundesamt für Justiz hat dies in seinem Gutachten vom 24.5.2024 klar und überzeugend verneint. Die gelegentliche und inkonsistente Unterstellung von Staatsverträgen aus angeblichen Gründen der Wichtigkeit in der Praxis von Bundesrat und Parlament nach Massgabe politischer Opportunität genügt verfassungsrechtlich nicht.
14. Die mit dem Ständemehr verbundene Ungleichbehandlung als schwerwiegende Ein-schränkung der Stimmkraft verlangt auch, dass dies bei der Auslegung von Art. 140 BV berücksichtigt werden muss, und damit politisch auch bei der Frage eines Referendums sui generis. Das gilt für den Nachweis des öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit der mit dem Ständemehr verbundenen Ungleichbehandlung von Bürgerinnen und Bürger der Schweiz.
15. Dies führt zwangsläufig zu einer engen Auslegung. Das gilt namentlich für die Frage, ob die Bilateralen III zu wichtigen Kompetenzverschiebungen von den Kantonen auf den Bund oder supranationale Elemente aufweisen durch die Unterstellung von Streitigkeiten unter den Europäischen Gerichtshof im Rahmen des Schiedsverfahrens und damit von besonderer Wichtigkeit sind.
16. Soweit ersichtlich fallen alle Regelungsbereiche der Bilateralen III materiell bereits heute in die Kompetenz des Bundes. Eine Ausnahme bildet allein das Ueberwachungsverfahren für kantonale Subventionen, das wohl ähnlich wie im Beschaffungswesen neue Funktionen des Bundes mit sich bringen wird, aber keine rechtssetzenden Befugnisse beinhalten dürfte.
17. Die Unterstellung der Bilateralen III unter die verbindliche Schiedsgerichtbarkeit, einschliesslich der Zuständigkeiten des Europäischen Gerichthofes, führt nicht zu einer dem EU Beitritt vergleichbaren Rechtslage. Denn anders als bei einem Beitritt steht der Schweiz die Möglichkeit des Opting-out nach wie vor zur Verfügung. Anzufügen ist, dass Bundesrat und Parlament die WTO Verträge von 1995 gemäss Botschaft vom 19.9.1994 Ziff. 8.3. nicht dem obligatorischen Referendum unterstellt haben, obgleich diese eine verbindliche Streitbeilegung durch Panels und den Appellate Body umfassen. Die Entscheidungen des Dispute Settlement Body sind für die Schweiz verbindlich. Ein Opt-out besteht dahin, dass auch hier die Schweiz mit Zustimmung der WTO (Dispute Settlement Body) Ausgleichsmassnahmen in Kauf nehmen kann, wenn sie einer festgestellten Rechtsverletzung keine Folge leisten will. Die Rechtslage in den Bilateralen III ist damit vergleichbar.
18. Die individualrechtliche Betrachtung stützt im Ergebnis die Unterstellung der Bilateralen III unter das einfache, fakultative Staatsvertragsreferendum und zur Ablehnung eines erforderlichen Ständemehrs mit Rücksicht auf die StimmbürgerInnen und die Integrität und Gleichbehandlung ihrer Stimmkraft. Wer für ein Ständemehr eintritt, nimmt eine mas-sive Ungleichbehandlung der Stimmenden in grossen und mittleren Kantonen trotz fehlender Rechtsgrundlage in Kauf.
19. Der Schutz der kleinen Kantone ist verfassungsrechtlich in die Hände des Ständerates gelegt. Er kann mit seinen Kommissionen und im Plenum dafür sorgen, dass deren Interessen hinreichend wahrgenommen werden, zuletzt in der Beurteilung des endgültigen Verhandlungsergebnisses. Dem Minderheitenschutz ist damit Genüge getan und bedarf keines obligatorischen Referendums mit Erfordernis auch des Ständemehrs.
Prof. Thomas Cottier
7.7.24 final
Dieses Papier wurde von Astrid Epiney (die Thomas Cottier, Paul Fivat, Markus Notter und Christa Tobler für wertvolle Anregungen sehr herzlich dankt) verfasst und der Groupe de réflexion von P-S-E (Plattform Schweiz Europa) zur Diskussion am 15. Juli 2024 unterbreitet und genehmigt.
Im Zuge der laufenden Diskussionen um den Entwurf des Verhandlungsmandats des Bundesrates mit Blick auf den Abschluss eines neuen Pakets von Abkommen mit der EU, welche die bestehenden Binnenmarktabkommen stabilisieren und weiterentwickeln sollen («Bilaterale III»), wird bereits intensiv diskutiert, ob ein solches Abkommen dem obligatorischen Referendum zu unterstellen wäre. Auch wenn diese Frage definitiv erst nach der Analyse der Abkommenstexte selbst beantwortet werden kann, überrascht die mitunter zu beobachtende Insistenz, mit welcher bereits jetzt teilweise davon ausgegangen wird, dass ein obligatorisches Referendum jedenfalls und insbesondere vor dem Hintergrund der bisherigen Verfassungspraxis notwendig sei.
Denn die Bundesverfassung sieht bei Staatsverträgen ein solches obligatorisches Referendum nur beim Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften (die EU) oder Organisationen für kollektive Sicherheit (wie z.B. die UNO) vor (Art. 140 Abs. 1 lit. b BV). Hieraus ergeben sich für die Frage, ob die «Bilateralen III» dem obligatorischen Referendum unterstellt werden dürften, drei Problemkreise:
In Bezug auf die erste Frage dürften – wie wohl auch mehrheitlich in der juristischen Literatur vertreten – gute Gründe dafür sprechen, dass auch andere Staatsverträge als diejenigen, die ausdrücklich in Art. 140 Abs. 1 lit. B BV genannten dem obligatorischen Referendum unterstellt werden dürfen, so dass das Parlament ein ausserordentliches obligatorisches Staatsvertragsreferendum vorsehen darf. Diesen Ansatz vertritt auch der Bundesrat in seiner Botschaft zur totalrevidierten Bundesverfassung, in seiner Botschaft zur Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk)» sowie in seiner Botschaft zum obligatorischen Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter. Der Bundesrat wies hier jeweils darauf hin, dass die geltende
Verfassungsbestimmung es erlaube, besonders wichtige völkerrechtliche Verträge dem obligatorischen Referendum zu unterstellen und geht damit grundsätzlich von der Zulässigkeit eines ausserordentlichen obligatorischen Staatsvertragsreferendums aus.
Gleichzeitig – und bezugnehmend auf die zweite Frage – weist der Bundesrat aber auch regelmässig (wenn seine Ausführungen auch mitunter missverständlich sind, vgl. sogleich) darauf hin, dass das obligatorische Referendum «Verfassungsmaterien» vorbehalten bleiben solle, also ein «Verfassungscharakter» notwendig sei und es keinen Grund gebe, auch das Ständemehr bei Vorlagen, welche die Kantone nicht spezifisch betreffen und keine Verfassungsmaterien beschlagen, zu verlangen. So verweist der Bundesrat in der zuletzt genannten Botschaft (BBl 2020 1243 ff.) darauf, dass «die Möglichkeit (besteht), einen völkerrechtlichen Vertrag auch dann Volk und Ständen zu unterbreiten, wenn er aufgrund seiner Bedeutung auf der Stufe der Bundesverfassung steht» (BBl 2020 1247). Weiter legt der Bundesrat im Einzelnen dar, warum dies beim Freihandelsabkommen (Schaffung einer neuen Lage für die Schweizer Wirtschaft, insbesondere durch den «freien Zugang zum europäischen Grossmarkt») sowie beim EWR (materiell umfassender Anwendungsbereich des Abkommens, unmittelbare Anwendbarkeit zahlreicher Vertragsbestimmungen, Unterwerfung der Schweiz unter die Zuständigkeit des EFTA-Gerichtshofs und der EFTA-Überwachungsbehörde; «zweifellos von überragender politischer und wirtschaftlicher Bedeutung für unser Land») der Fall gewesen sei, nicht hingegen bei den «Bilateralen II» bzw. «Schengen/Dublin» (keine «tiefgreifenden Änderungen unseres Staatswesens», keine Einschränkung der Souveränität, keine Beeinträchtigung der Kompetenzordnung).
Es gibt im Übrigen weder eine Praxis noch Verfassungsgewohnheitsrecht, dass ein ausserordentliches obligatorisches Referendum auf weitere besonders wichtige Abkommen ausgedehnt werden dürfte oder könnte. Vielmehr war die Unterstellung des EWR-Vertrags unter das obligatorische Staatsvertragsreferendum seit dem Inkrafttreten der diesbezüglichen Verfassungsbestimmungen (das FHA wurde vor der Revision des Staatsvertragsreferendums dem obligatorischen Referendum unterstellt und die Abstimmung über den Völkerbund datiert von 1920) der einzige Fall eines solchen ausserordentlichen obligatorischen Staatsvertragsreferendums, welches aber letztlich auf den sehr weitgehenden supranationalen Elementen des EWR, die in ihren Wirkungen teilweise einem EU-Beitritt gleichkamen, sowie der mit der Vorlage ebenfalls vorgesehenen Übergangsbestimmung, welche für das Euro-Lex-Paket das fakultative Referendum ausschliessen sollte (was das Parlament dann abänderte, indem ein nachträgliches fakultatives Referendum vorgesehen wurde, was aber ebenfalls eine Verfassungsänderung bedingt hätte), beruhten. So führte der Bundesrat in seiner Botschaft zum EWR-Abkommen vier Gründe an, weshalb der Vertrag dem obligatorischen Referendum unterliege (BBl 1992 IV 541):
Der Hinweis des Bundesrates in seiner Botschaft zum obligatorischen Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter, der EWR sei «zweifellos von überragender politischer und wirtschaftlicher Bedeutung für unser Land», und daher sei nur das obligatorische Referendum in Frage gekommen, eine Auffassung, welcher sich die Bundesversammlung angeschlossen habe (BBl 2020 1249), erscheint vor diesem Hintergrund missverständlich. Denn die «Bedeutung» oder «Wichtigkeit» war offenbar 1992 gerade nicht der entscheidende Gesichtspunkt (auch wenn der Bundesrat in seiner EWR-Botschaft ergänzend auf die grosse Bedeutung des Abkommens hinwies), sondern es ging in erster Linie um die supranationalen Elemente des EWR-Vertrages sowie die vorgesehene Verfassungsänderung (die übrigens schon für sich allein das obligatorische Referendum erforderte).
In der Tat spricht aus verfassungsrechtlicher Sicht Vieles dafür, dass ein völkerrechtlicher Vertrag nicht beliebig einem ausserordentlichen obligatorischen Staatsvertragsreferendum unterstellt werden darf, sondern dies auf solche Konstellationen beschränkt werden sollte, in welchen der entsprechende Staatsvertrag Wirkungen entfaltet, die denjenigen eines Beitritts zu einer supranationalen Organisation gleichkommen bzw. ins Gewicht fallende supranationale Elemente aufweist. Hinzuweisen ist insbesondere auf die enumerative Aufzählung in der Verfassung, welche klar dagegen spricht, dass auch darüber hinaus alle besonders bedeutsamen Staatsverträge – ohne dass klar wäre, nach welchen Kriterien die Bedeutung beurteilt würde – dem obligatorischen Referendum unterstellt werden dürften und die Bundesversammlung hier frei aufgrund politischer Erwägungen bzw. der Einschätzung eines Abkommens als «besonders wichtig» entscheiden dürfte. Denn im Gegensatz zu Verfassungen anderer Staaten umschreibt die – von Volk und Ständen angenommene – Bundesverfassung den Anwendungsbereich der Volksrechte bzw. diejenigen Konstellationen, in welchen ein obligatorisches oder fakultatives Referendum durchzuführen ist, im Ergebnis recht genau, so dass deren Reichweite nicht frei durch Entscheide der politischen Behörden bestimmt werden darf bzw. von solchen Entscheiden abhängt. Plebiszitäre Referenden in den Händen von Regierung und Parlament widersprechen der in der Bundesverfassung getroffenen Regelung und dem dieser zugrunde liegenden Verfassungsverständnis.
Der hier vertretene Ansatz entspricht auch der langjährigen, wenn auch (sofern man das Freihandelsabkommen berücksichtigt) nicht immer ganz einheitlichen Praxis. So wurden weder die Bilateralen I noch die Bilateralen II (in welchen nota bene aufgrund der Schengen-/Dublin-Assoziierung eine dynamische Übernahme von Weiterentwicklungen des Unionsrechts vorgesehen ist) dem obligatorischen Referendum unterstellt. Ebensowenig kam beim Luftverkehrsabkommen, in welchem sich die Schweiz immerhin in bestimmten Fällen der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof unterstellt hat, das obligatorische Referendum zum Zug. Bezeichnend ist auch, dass 2012 eine Volksinitiative («Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk»), wonach alle Abkommen, die in «wichtigen Bereichen» eine multilaterale Rechtsvereinheitlichung vorsehen und/oder Rechtsprechungszuständigkeiten an ausländische oder internationale Institutionen übertragen, Volk und Ständen vorgelegt werden sollten, mit einem Nein-Anteil von rund 75 % ohne Gegenvorschlag verworfen wurde. Das Parlament seinerseits trat 2021 auf den bundesrätlichen Vorschlag, für Verträge mit Verfassungscharakter oder für Verträge, deren Umsetzung eine Verfassungsänderung erfordert, ein obligatorisches Staatsvertragsreferendum vorzusehen, nicht ein.
Vor diesem Hintergrund spricht also im Ergebnis Vieles dafür, an den Text der Verfassung anzuknüpfen, so dass ein ausserordentliches Staatsvertragsreferendum nur dann vorgesehen werden darf, wenn der betreffende Vertrag supranationale Elemente oder einen supranationalen Charakter aufweist, womit ihm dann gerade «Verfassungscharakter» zukommt. Damit ist zwar durchaus von einem gewissen Gestaltungsspielraum des Parlaments auszugehen, kann doch die Frage der genauen «supranationalen Wirkungen» eines Staatsvertrags durchaus umstritten sein. Nicht mit der Verfassung in Einklang stehend dürfte es jedoch sein, Bundesrat und / oder Parlament zu erlauben, je nach politischer Einschätzung Staatsverträge, welche weder einen Beitritt zu einer supranationalen Organisation (oder einer Organisation kollektiver Sicherheit) noch supranationale Elemente enthalten, dem obligatorischen Referendum zu unterstellen.
Zurück zu den «Bilateralen III» (und damit zur oben erwähnten dritten Frage): Nichts in dem Entwurf des Verhandlungsmandats des Bundesrates lässt erkennen, warum ein allfälliges Abkommen einem Beitritt zu einer supranationalen Organisation gleichkommen soll bzw. supranationale Elemente aufweisen soll: Die Auswirkungen wären – ohne die Bedeutung des zukünftigen Vertragswerks minimisieren zu wollen – in keiner Weise mit einem solchen Beitritt auch nur ansatzweise vergleichbar und weisen auch keine supranationalen Elemente auf: Es geht um einige (wenige) Binnenmarktabkommen, die dynamische Rechtsübernahme ist zwar vorgesehen, allerdings mit der ausdrücklichen Möglichkeit (insoweit übrigens im Gegensatz zur Schengen-/Dublin-Assoziierung) des «Ausscherens», und die Streitbeilegung zwischen den Vertragsparteien obliegt trotz der Rolle des EuGH als «Gericht des Binnenmarktes» einem Schiedsgericht (ein im Völkerrecht gängiges Verfahren), während ansonsten Schweizer Behörden und Gerichte in der Schweiz für die Überwachung und den Rechtsschutz zuständig sind. Insofern ist bei näherer Betrachtung kein typisches Merkmal einer supranationalen Organisation (umfassender materieller Anwendungsbereich, unabhängige ständige Organe, darunter solche, die verbindliche Mehrheitsbeschlüsse fassen können, die unmittelbar für Einzelne verbindlich sind) erfüllt. Auch kann keine Rede davon sein, dass dem Abkommenspaket als solchem klar Verfassungsrang zukäme, den Föderalismus bzw. die Rolle der Kantone besonders betreffen würde oder gar eine grundlegende Veränderung der Organstrukturen nach sich zöge, bleiben doch die Kompetenzen des Parlaments und der anderen Verfassungsorgane sowie der Kantone gewahrt.
Dass den «Bilateralen III» zweifellos eine grosse Bedeutung zukommt und sie auch politisch sensible Bereiche wie insbesondere die Personenfreizügigkeit betreffen, ändert an den dargelegten Ausführungen nichts. Klarzustellen bleibt dabei, dass das Vertragspaket der «Bilateralen III» nach Art. 141 BV unstreitig dem fakultativen Referendum zu unterstellen wäre und wohl kaum Zweifel daran bestehen, dass das Referendum ergriffen würde. Das Volk müsste also in jedem Fall dem Vertragswerk zustimmen. Ohne eine Mehrheit des Volkes könnte das Paket somit nicht abgeschlossen werden.
Neben den erwähnten rechtlichen Argumenten und selbst wenn man die Ansicht vertritt, auch besonders wichtige Verträge dürften je nach politischer Einschätzung der «Wichtigkeit» einem ausserordentlichen Staatsvertragsreferendum unterstellt werden, ist darauf hinzuweisen, dass das obligatorische Referendum die Notwendigkeit des Ständemehrs mit sich bringt, was eine sehr starke Stellung der Kantone bzw. ihrer Bevölkerung impliziert und den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern der «kleinen» Kantone ein deutlich überproportionales Gewicht zukommt. Dies beeinträchtigt das demokratische Prinzip, welches in Verfassungsmaterien bzw. in solchen Konstellationen, in denen die Rolle und Kompetenzen der Kantone betroffen sind bzw. bei Verfassungsmodifikationen mit guten Gründen gerechtfertigt werden kann und von der Verfassung vorgesehen ist. Mit Blick auf das demokratische Prinzip und die Gleichheit des Gewichts der Stimmen sollten jedoch ausserordentliche obligatorische Staatsvertragsreferenden – wie dies auch der Praxis der vergangenen Jahre entspricht – auf absolute Ausnahmekonstellationen – welche nur bei Vorliegen der skizzierten Voraussetzungen anzunehmen sind – beschränkt bleiben. Was die «Bilateralen III» betrifft, so sind diese Voraussetzungen – wie dargelegt – nicht gegeben; sie stellen letztlich eine Fortführung und Stabilisierung des bisherigen bilateralen Weges dar, woran auch gewisse institutionelle Elemente nichts ändern.
3. Mai 2024
Es sei verfrüht, die ‚Bilateralen III‘ zu beurteilen, solange die Verhandlungen noch
nicht abgeschlossen sind, argumentiert Jean-Daniel Gerber, ehemaliger Staatssekretär für Wirtschaft (Seco). Er nimmt jedoch einige der Argumente der Kritiker der aktuellen Verhandlungen der Schweiz mit der EU unter der Lupe und zeigt, wieso ein Freihandelsabkommen nicht die gleiche Wirkung wie die ‚Bilateralen III‘ hätten. Lesen Sie hier den ganzen Kommentar von Jean-Daniel Gerber.
Am späten Nachmittag des 5. März 2024 trifft sich am World Trade Institute der Universität Bern eine Gruppe von Leuten aus ganz unterschiedlichen politischen Lagern zu einem ungewöhnlichen Workshop: Es geht um nichts Geringeres, als die Schweizer Neutralität neu zu denken.
Ex-Verteidigungsminister Samuel Schmid ist gekommen, SP-Ständerätin Franziska Roth ist auch da, Ex-FDP-Nationalrätin Christa Markwalder hat sich online zugeschaltet – total ein gutes Dutzend Personen. Eingeladen hat der emeritierte Berner Europarechtsprofessor Thomas Cottier. «Ich mache das aus meiner Verantwortung als Staatsbürger heraus», wird er später sagen.
Hier kann das Manifest heruntergeladen werden
Gilbert Casasus
Je t’aime, moi non plus !
En opposition avec la pensée dominante, cet ouvrage prend le contrepied d’une lecture technique et trop juridique de la relation entre la Suisse et l’Union européenne. Provocateur, mais surtout lucide dans son constat et dans sa critique, il offre aux lecteurs ce dont ils furent privés depuis trop longtemps, à savoir de nouvelles perspectives pour mettre les montres suisses à l’heure européenne.
Plaidoyer pro-européen, il s’adresse en priorité à tous les Suisses qui oublient souvent qu’il n’existe peut-être pas de pays plus européen que le leur.
Seit Jahrzehnten bestimmt das nationalkonservative Lager in der Schweiz die Debatte um Europa. Höchste Zeit, dass die fortschrittlichen Kräfte die Deutungsmacht zurückgewinnen – und neue Chancen für das Land schaffen.
Viel zu lange liessen sich die proeuropäischen Kräfte der Schweiz in die Abwehrrolle drängen, anstatt ihre eigene Geschichte der Schweiz in Europa zu erzählen. Mit der Europa-Initiative verfügen radikale Liberale, unter Einschluss sozialer, ökologischer und sicherheitspolitischer Anliegen, nun über ein Zukunftsprojekt, um den Europadiskurs zurückzugewinnen. Dabei ist es kein Zufall, dass sie mit ihrer Initiative den gleichen Verfassungsartikel ändern wollen wie die Gegenseite mit der Neutralitätsinitiative.